Werden die meisten von uns arm sein?

Überlegungen zur zukünftigen Wirtschaftsentwicklung

Ein erheblicher Teil der Menschheit leidet unter unwürdigen, zum Teil sogar lebensbedrohlichen Verhältnissen. Täglich verhungern Menschen, obwohl die Erde genügend Nahrungsmittel produzieren könnte. Selbst in den reichen Industrieländern nimmt die Armut stetig zu. Besonders betroffen sind Alleinerziehende, Kinder und ältere Menschen. Der Niedriglohnsektor wächst hierzulande, die Gesundheitskosten steigen und auch die Erwerbslosigkeit nimmt wieder zu. In Altenheimen herrschen teilweise unhaltbare Zustände, Krankenhäuser werden geschlossen. Man fragt sich, wo das alles enden soll. Zumal weltweit – mit wachsender Tendenz – Billionen in die Finanzierung von Rüstung und Kriegen gesteckt werden. Dieses Geld fehlt nicht nur im immer weitmaschiger geknüpften sozialen Netz. Auch die Energie- und Klimawende können so nicht gelingen.

Man muss sich fragen, ob ein Ende dieser unheilvollen Tendenzen und damit eine Wende zum Besseren möglich ist. Man kann diese Frage positiv, also mit Ja beantworten. Auch eine gegenteilige Antwort ist möglich. Entscheidend ist, unter welchen Bedingungen Wirtschaftsleben künftig stattfindet. Entscheidend sind unter anderem die Spielregeln, die für die Geldwirtschaft gelten.

Diese begünstigten während der letzten Jahrtausende bis heute auf eklatante Art und Weise die Besitzer großer Geldvermögen, denen nach wie vor – völlig legal – permanent gigantische Zinseinkünfte zufließen. Es handelt sich dabei um Geld, das anderen, bedürftigen Menschen weggenommen werden muss und deshalb an wichtigen Stellen fehlt, während es sich an eher unproduktiven Orten des Überflusses ansammelt. Die Legitimität solcher Einrichtungen wurde bereits vom frühen Christentum (1) wie auch vom Islam in Abrede gestellt. Auch Schriftsteller, Gesellschaftstheoretiker und Utopisten der jüngeren Vergangenheit befassten sich mit dieser Frage.

Zu ihnen gehört auch Edward Bellamy, der am 26. März 1850 in Massachusetts geborene und dort am 22. Mai 1898 gestorbene Sohn eines Baptisten- Predigers. Bellamy wäre heute längst vergessen, wäre er nicht der Autor von „Looking Backward: 2000 – 1887“, der erfolgreichsten Utopie des 19.

Jahrhunderts und vielleicht der meistgelesenen Utopie überhaupt. Der Roman erschien in Amerika 1887 und 1890 in Deutschland im Verlag von J.H. W. Dietz, Stuttgart. Übersetzt wurde er von Clara Zetkin. Hier nun ein Auszug aus der Reclam-Ausgabe von 1983:

„Der Leser fragt, wie ich denn leben konnte, ohne der Welt irgendeinen Dienst zu leisten? Die Antwort ist, dass mein Urgroßvater eine Summe Geldes aufgespeichert hatte, von welcher seine Nachkommen stets gelebt hatten. Man wird natürlich schließen, dass diese Summe sehr groß gewesen sein müsse, um nicht durch den Unterhalt dreier nichtstuender

Generationen erschöpft worden zu sein. Dies jedoch war nicht der Fall. Die Summe war anfänglich nicht groß gewesen. Sie war tatsächlich viel größer jetzt, nachdem sie drei Geschlechter in Trägheit erhalten hatte, als sie zuerst gewesen war. Dieses Geheimnis eines Gebrauches ohne Verzehrung,

einer Wärme ohne Verbrennung, erscheint fast wie Zauberei; aber es war nichts weiter als eine schlaue Anwendung der Kunst, welche glücklicherweise jetzt verlorengegangen ist von unseren Vorfahren aber zu großer Vollkommenheit gebracht worden war: der Kunst, die Last des eigenen Unterhalts auf die Schultern anderer zu wälzen. Wer dies erreicht hatte – und es war das Ziel, nach dem alle strebten – , der lebte, so sagte man, von den Zinsen seines Kapitals. Es würde uns zu sehr aufhalten, hier zu erklären, wie die alte Gesellschaftsordnung dies möglich machte; ich will nur bemerken, dass die Zinsen eines Kapitals eine Art beständiger Steuer waren, welche die Geld besitzenden Personen von der Produktion der gewerbtätigen Arbeiter erhoben. Es muss nicht vorausgesetzt werden, dass eine Einrichtung, die so unnatürlich und absurd nach unseren modernen Anschauungen ist, niemals von unseren Voreltern kritisiert worden sei; im Gegenteil, es war seit den ältesten Zeiten das Ziel von Gesetzgebern und Propheten gewesen, den Zins abzuschaffen oder ihn wenigstens zu dem möglichst geringen Fuße herunterzubringen. Alle diese Bestrebungen waren jedoch ohne Erfolg geblieben, wie sie es natürlicherweise sein mußten, solange die alte soziale Organisation herrschte. Zu der Zeit, über welche ich schreibe, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, hatten die Regierungen meistens den Versuch aufgegeben, diesen Gegenstand überhaupt zu regeln.“

Daran hat sich bis heute wenig geändert. Auch im Jahre 2023 dominiert der Mechanismus, den Bellamy vor über 100 Jahren als gesellschaftzerstörend

entlarvte. Der mittlerweile verstorbene Berliner Ökonom Prof. Elmar Altvater schrieb einmal: „Jeder Zinstermin bringt den Geldvermögensbesitzern einen Einkommensschub, der über die Zuwächse der Löhne und Gehälter (und der daran gebundenen Renten) rasant hinausgeht. Gleichzeitig gelten die Vermögenseinkünfte als tabu. … Wie aber soll die Staatsverschuldung in Grenzen gehalten werden, wenn man nicht zugleich die andere Seite der Bilanz, die privaten Vermögen nämlich, begrenzt?“(3)

Hier gibt es also einiges zu tun. Zunächst in Form von Diskussionen in einer breiten Öffentlichkeit – immerhin ist Geld eine Gemeinschaftseinrichtung und ein gestaltbares Kulturgut – , dann ganz praktisch in der Umsetzungsphase der Diskussionsergebnisse. Ein Zinsverbot, wie von den Religionen vorgeschlagen, kann allerdings nicht die Lösung (4) sein. Erst recht nicht die für eine arbeitsteilige Wirtschaft völlig kontraproduktive Abschaffung des Geldes.

Konsens könnte vielmehr sein: Wir wollen kein Geld, das zu gigantischen, ungerechtfertigten Reichtumsansammlungen bei einigen wenigen führt, sondern ein Geld, das allen dient und nicht herrscht, Leistungsgerechtigkeit jedoch ermöglicht. Ein Geld, das auch bei sehr niedrigen Zinssätzen oder gar bei einem zeitweiligen Zinssatz von nahe null noch umläuft und somit seine Vermittlerfunktion im Zirkulationsnetzwerk der Volkswirtschaft erfüllt. Es lohnt sich mehr denn je, sich auch mit Rudolf Steiners Ausführungen zum Geld zu beschäftigen.

Gelingt es, ein gerechtes, dienendes Geldwesen zu schaffen, wird ein menschenwürdiges Dasein für alle Menschen mittelfristig weltweit möglich sein. Ansonsten werden Elend und Armut weiter wachsen. In den Industrieländern wird der Mittelstand langsam abschmelzen, was in Deutschland bereits der Fall ist, worauf das Münchener Ifo-Institut im August 2023 erneut warnend hingewiesen hat.

Auch in den Industrieländern wird es ohne grundlegende Korrekturen neben einigen wenigen Superreichen und einer schmalen, stark ausgedünnten Mittelschicht eine hoffnungslos verarmte Masse geben. Die Reichen reicher, die Armen zahlreicher: das kann jedoch nicht unsere Zukunftsoption sein.

Frank Bohner

Endnoten:

(1) Roland Geitmann: Bibel, Kirchen, Zinswirtschaft. Zeitschrift für Sozialökonomie, Heft 80, S. 17-24. Internet siehe https://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/geitmann/

(2) Edward Bellamy: Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887. Stuttgart

1983, S. 6f.

(3) Elmar Altvater: Keine Seele im Leib. Freitag, Die Ost-West-Wochenzeitung.

Nr. 34, 2003.

(4) Erklärung siehe Anm. 1

Bücher:

Helmut Creutz: Das Geldsyndrom

Lothar Vogel: Die Verwirklichung des Menschen im sozialen Organismus

(antiquarisch erhältlich)

Margrit Kennedy: Geld ohne Zinsen und Inflation. Ein Tauschmittel, das allen dient (antiquarisch erhältlich)

Internet: www.inwo.de

www.helmut-creutz.de

http://fragen-der-freiheit.de/hefte.html