Wie verhalten sich Waldorfpädagogik und Anthroposophie zueinander? Teil 4

Anthroposophie ist als praktisch umgewandelte Erkenntnis in die Grundlagen der Waldorfpädagogik eingeflossen. Daher können Inhalte und Methode der Anthroposophie unterschieden werden.

Kernthema III: Geistige Wesen

Neben Reinkarnation und Karma und Kosmologie ist auch die Anschauung einer Welt von geistigen Kräften und Wesen ein Kernthema der Anthroposophie. Darauf soll ergänzend zu den ersten beiden Kernthemen noch geblickt werden. Schier unüberschaubar ist die Reihe von Rudolf Steiners anthroposophischen Darstellungen über diese Wesenheiten einer geistigen Welt. Nichts davon lässt Steiner aus den in vorherigen Teilen dieser Textreihe genannten Gründen in die Vorträge für die interessierte Öffentlichkeit einfließen. In seinen Vorträgen für das erste Kollegium werden jedoch diese Darstellungen sehr wohl als bekannt vorausgesetzt, auf eine besondere Art und Weise konkretisiert und zu einer für alle potenziell handhabbaren Angelegenheit gemacht. Die Lehrerinnen und Lehrer haben sich allesamt als persönliche Schülerinnen und Schüler Steiners empfunden, haben ihn als ihren Lehrer aufgefasst. Das Allererste, womit Steiner den ersten Kurs für sie beginnt, ist die Besinnung darauf, wie wir eine Beziehung «mit den geistigen Mächten, in deren Auftrag und deren Mandat jeder Einzelne von uns gewissermaßen wird arbeiten müssen, herstellen» (Steiner, GA 293, S. 17). In der allerersten Konferenz bat er das Kollegium, «so zu arbeiten, dass immerdar gerechnet wurde mit der Wirklichkeit der geistigen Welt», und er konkretisiert auch die praktischen Ansätze des meditativen Lebens, die diese intime Zusammenarbeit mit den geistigen Wesen ermöglichen sollten (‹Zur meditativen Vertiefung des Lehrer- und Erzieherberufs›, 2014, S. 121). Einige Tage später hob er nochmals ins Bewusstsein der Anwesenden, dass «indem wir das eine oder andere tun, die Intentionen der Götter ausführen, dass wir gewissermaßen die Gehäuse sind, um das zu verwirklichen, was als Strömungen herunterfließt und sich verwirklichen will in der Welt» (Steiner, GA 300a, S. 111).

Aus heutiger Perspektive betrachtet, stehen wir immer noch vor der großen Aufgabe, uns diese Hinweise Steiners zu erschließen  –  nicht als eine anzuwendende Technik mit einem abgesicherten und einfach messbaren Ergebnis. Außerordentlich anspruchsvoll ist es, solche Wahrnehmungen für die Wirksamkeit von geistigen Wesen, jenseits aller Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit, nicht nur nachzuvollziehen oder einem Verständnis zugänglich zu machen, sondern auch selbst erste Erfahrungen auf diesem Gebiet anzustreben. Wir bewegen uns hier in der Sphäre höchster Freiheit. Jeder Mensch kann nur selbst entscheiden, ob er eine solche Wahrnehmungsschulung aufgreifen und erüben möchte und ob Steiners Gesichtspunkte für ihn relevant und fruchtbar sind.

Kann man die beiden Elemente, das der Meditation und das der Nacht, die Steiner in diesem Zusammenhang aufführt (‹Zur meditativen Vertiefung des Lehrer- und Erzieherberufs›, 2014, S. 121) als Mittel auffassen, um an diesem Punkt weiterzukommen? Die Wirkungen des Meditierens und die Wirkungen des Schlafes auf die Seelenkräfte wären allerdings gesondert zu betrachten.

Zwei Formen der Anthroposophie:
Anthroposophie als Inhalt und Anthroposophie als Methode

Das Verhältnis von Anthroposophie zur Waldorfschule ist einfach und kompliziert zugleich. Bereits Rudolf Steiner machte wesentliche Unterscheidungen: Anthroposophie sollte weder ein Lehr- noch Unterrichtsinhalt in der Schule sein (Steiner, GA 293, S. 15), obwohl die Waldorfpädagogik selbst «in gerader Linie aus der Anthroposophie hervorgegangen» (Steiner, GA 36, S. 328f) ist. Die Waldorfschule hat er nicht als eine «Anthroposophenschule» intendiert, bezeichnet ihre Pädagogik aber als «anthroposophische Pädagogik». Es ging ihm um Anthroposophie als ‹Methode›. Die Waldorfschule sollte ein «Beweis für die Durchschlagskraft der anthroposophischen Weltorientierung» sein (Steiner, GA 293, S. 13).

Anthroposophie wird bis heute überwiegend als ein mit dem Werk Rudolf Steiners abgeschlossenes Gedankensystem missverstanden, als Weltanschauung mit einem definierten Welt- und Menschenbild aufgefasst. Dies ist ein großes Hindernis in der positiven Rezeption der Anthroposophie und Grund für viele Irritationen, wenn nicht sogar für ihre Ablehnung. Dabei betonte Steiner vor der Gründung der Waldorfschule ihren Wert in der «praktischen Handhabung» und hat sie 1924 auch als «Erkenntnisweg» bezeichnet. Diese entwicklungsoffene Methode ist offensichtlich schwer fassbar, entzieht sich einer einfachen Festlegung und Aburteilung, und zwar auch im Hinblick auf die Funktion der Anthroposophie in der Waldorfpädagogik.

Zum Verständnis dieser Funktion hilft es, kurz die Genese der Anthroposophie nachzuzeichnen (vgl. z. B. Steiner, GA  303, 1. Vortrag). Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges kann man Anthroposophie auch als Lehre oder Weltanschauung auffassen, die mehrere zentrale und substanzielle Inhalte umfasst wie z.B. eine gegliederte Anschauung des leiblich-seelisch-geistigen Menschen, eine Anschauung der geistigen Entwicklung des Menschen mit den Aspekten der Wiederverkörperung und des Schicksals, eine Schilderung der Wege zur Erfahrung des Geistigen, eine differenzierte Anschauung der geistigen Welt und ihrer hierarchisch geordneten Wesen, eine entsprechende Anschauung der irdischen und kosmischen Entwicklung, eine geistige Anschauung der Naturreiche, eine Anschauung der Menschheitsgeschichte mit dem zentralen Christus-Ereignis usw. Alle diese Inhalte stehen in einem wechselseitigen sinnvollen Zusammenhang und bilden ein Ganzes. Anthroposophie erscheint bis dahin in Form zahlreicher Darstellungen Rudolf Steiners, einerseits in seinen Büchern und Aufsätzen, vor allem aber in seinen zahlreichen Vorträgen.

Nach dem Ersten Weltkrieg trat in dieser Hinsicht eine wesentliche Wandlung ein. Die Anthroposophie verlässt die Form reiner Lehre und begründet aus sich heraus praktische Lebensfelder in Pädagogik, Medizin und Pharmazie, Landwirtschaft usw. Inhaltlich wird dieser Ansatz mit der innovativen Idee der Dreigliederung des Menschen und der Dreigliederung des sozialen Organismus begründet und publik gemacht. Die Art und Weise, wie die Anthroposophie auftritt und wirkt, verändert sich grundlegend (Steiner, GA 21, 6. Erweiterung). Die bisher entwickelten und oben genannten Inhalte der Anthroposophie werden von Steiner nicht etwa aufgegeben. Steiner verzichtet nicht auf sie, sondern sie fließen selbstverständlich in ‹die Handhabung› der (pädagogischen, medizinischen und anderen) Lebensfelder ein. Steiner macht dadurch Anthroposophie praktisch. Dementsprechend besteht das besondere Verhältnis zwischen Waldorfpädagogik und Anthroposophie in der Intention von Rudolf Steiner nicht darin, dass auf zentrale Bestandteile der Anthroposophie bei der Begründung der Pädagogik verzichtet wird, dass Anthroposophie beschnitten oder reduziert wird, sondern diese Bestandteile bilden eine Art Fundament für die konstituierenden, jedoch in ihrem Selbstverständnis zu praktizierenden Inhalte. Immer wieder führt deswegen Steiner aus, wie man methodisch von der Anthroposophie als Gedankeninhalt und Begrifflichkeit zur gelebten Praxis kommt. Der Weg geht vom Kopf über das Herz in die Praxis, vom Studium über ein vertieftes Erleben zum praktischen Vollzug. «Zuerst ein Aufnehmen oder Wahrnehmen der Menschenkunde, dann ein Verstehen, ein meditierendes Verstehen dieser Menschenkunde, indem wir in uns immer mehr hineingehen, innerlich hineingehen, wo die Menschenkunde empfangen wird von unserem ganzen rhythmischen System, und dann haben wir ein Erinnern der Menschenkunde aus dem Geistigen heraus. Das heißt: aus dem Geiste heraus pädagogisch schaffen, pädagogische Kunst werden. Gesinnung muss das werden, Seelenverfassung muss das werden.» (Steiner, GA 302a, S. 53) So spricht er nicht zu der Öffentlichkeit, die sich über anthroposophische Pädagogik informieren möchte, sondern zu den Waldorflehrerinnen und -lehrern, also zu den Menschen, die die praktische Erziehungskunst hervorbringen.

Andererseits baute Steiner aber radikal auf die individuelle Einsicht und Erfahrung im Umgang mit der Anthroposophie. Es ist jeder pädagogischen Lehrkraft freigestellt, sich daran zu orientieren oder nicht.

Anthroposophie soll in der Waldorfpäda gogik nicht (nur) eine Theorie, eine Lehre oder ein Gedankengut darstellen, sondern ein praktisch angewandtes Instrument, eine konkrete Handlungsorientierung mit dem Ziel, eine immer humanere Pädagogik zu sein. Das bedeutet also nicht eine Abstinenz oder Abschwächung, sondern eine Intensivierung der Art, wie sich Menschen mit den zentralen anthroposophischen Inhalten beschäftigen, damit sie daraus ein besseres Verständnis des Kindes und seiner Entwicklung sowie entsprechende praktische pädagogische Fähigkeiten erlangen und Erziehungskünstlerinnen oder -künstler werden.

Die ganze Reflexion über die gegenwärtige Situation der Waldorfpädagogik und ihre Begründungsformen führt zur Notwendigkeit einer sorgfältigen Unterscheidung in Bezug auf ihre argumentative Vertretung und ihre sprachliche Darstellung. Nicht um etwas zu verschleiern oder zu verstecken, sondern um die Voraussetzungen, Interessen und Fragen der unterschiedlichen Zielgruppen bzw. Adressaten mit zu berücksichtigen und auch um den zentralen methodischen Wert der Anthroposophie zu würdigen.

Tomáš Zdražil

Erschienen in: Das Goetheanum –

Wochenschrift für Anthroposophie

Nr. 31-32, 3. August 2023

Tomáš Zdražil, Gebürtig aus Tschechien, hat Geschichte in Prag studiert und promoviert in Erziehungswissenschaften zum Thema Gesundheitsförderung und Waldorfpädagogik an der Universität Bielefeld. Tomáš Zdražil war Klassenlehrer in Semily in Tschechien und lehrt heute an der Freien Hochschule Stuttgart, Seminar für Waldorfpädagogik. Seine Schwerpunkte sind die anthropologischen und anthroposophischen Grundlagen der Waldorfpädagogik und schulische Gesundheitsförderung.