Wege des Denkens der sozialen Frage in Zeiten der Pandemie

Teil 3

Orientieren des Denken statt reflexhaftes Handlungswissen

Kommen wir damit nun zu meinen Vorschlägen zum Umgang mit der sozialen Frage. Als Sinnbezirke habe ich Selbstwirksamkeit und Resonanz im Rahmen eines Gemeinwohls, Fragen der Urteilsbildung sowie eines ethischen Kompasses genannt, welche Souveränität im Denken und Handeln stärken sollen. Die Gesichtspunkte dazu sind abgeleitet aus einem philosophischen Denken, welches auf Orientierung aus ist und nicht reflexhaft vermeintlich verfügbares Handlungswissen bereitstellt. Ein solches Denken arbeitet rückgebunden an reale Erfahrung. Erfahrung ist sein Ausgangspunkt und Ziel. Ein solches Orientierungswissen zögert, es erweitert den Denk raum der Erfahrung, sucht neue Horizonte, tastet sich intuitiv darüber hinaus ins Unbekannte, befragt Alternativen nach ihrem Wert.

Ein solches Denken strebt eine reflexive Besonnenheit im gesellschaftlichen Handeln an, weil die Weltverhältnisse nicht durch schlichte Wahrheiten und schon gar nicht durch die eine Wahrheit verstanden werden. Diese Haltung zielt auf eine Praxis, welche sich ihrer Möglichkeiten und Unmöglichkeiten etwas besser bewusst ist. In der Praxis können die Überlegungen zu einem begründenden Bedingungswissen werden, wie etwas funktioniert, welches seine praktische Relevanz in sich immer konkreter ausdifferenzierendem Handlungswissen und entsprechender Handlungsroutine erweisen. Der vorgeschlagene denkende Realismus in seinem Bezug zu realer Erfahrung betrifft die Selbstformation und Selbstwirksamkeit des Einzelnen ebenso wie die möglichen Lebensformen unseres demokratischen Gemeinwohls. Er ist ein erster erkenntnisbasierender Gesichtspunkt meiner weiteren Überlegungen.

Hannah Arendt: Das „unendliche Gespräch zwischen Menschen” im Denken

Deren zweiter soll eine Fragestellung von Hannah Arendt sein. Anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg am 28. September 1959 spricht sie über „Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten” (Arendt 2020). Sie, die sich selbst zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr als Philosophin bezeichnete, sondern aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen von ihren Forschungen in politischer Theorie sprach, stellt die „politische Relevanz der Freundschaft” (Arendt 2020:76) ins Zentrum ihrer Betrachtungen. Im Sinne Lessings ist sie skeptisch und ablehnend gegenüber einem (philosophischen) Denken, das objektive, absolute Wahrheiten formuliert und diese mit autoritärer Attitüde vertritt. Ihr geht es vielmehr darum, im Denken ein „Gespräch zwischen Denkenden in Gang zu bringen” (Arendt 2020:51), nicht um zu philosophieren, sondern um gesellschaftlich-politisch zu handeln und zu verändern. Ihr geht es um das Zwischen, die Beziehung von Mensch zu Mensch, und um Parteilichkeit, die keine Subjektivität ist, sondern auf der Seite von Leid und Elend steht.

So wirft Hannah Arendt dem kategorischen Imperativ Kants seine Absolutheit vor und reklamiert leidenschaftlich dagegen das Gespräch über eine gemeinsame Welt, mit welchem verhandelt wird, was gelten soll, was sich verändern muss. In diesem Sinne meint Freundschaft nicht den privaten intimen Bereich geteilten Glücks und geteilten Leides, das vor der Außenwelt verborgene vertrauliche Gespräch, sondern im Gegenteil eine weltoffene Menschlichkeit und Solidarität. Denn in finsteren Zeiten besteht nur durch das Gespräch der Freunde der Menschheit die Hoffnung auf eine lichtvollere Zukunft: die Freundschaft im Sinne Hannah Arendts ist die Quelle eines Gemeinwohls, eines Zusammenhalts in Gemeinschaften. Hannah Arendts große Hoffnung ist, dass „das unendliche Gespräch zwischen Menschen nie aufhören werde, solange es überhaupt Menschen gibt” (Arendt 2020:82), denn nur durch dieses Gespräch sei der Menschheit Entwicklung, Verwandlung zu ganz Neuem möglich.

Transformation des Egoismus

Ein besonderes Korrektiv dieser Überlegungen von Hannah Arendt für eine kritische Reflexion eigenen Denkens und Handelns scheint mir darin zu liegen, dass sie alle Hoffnungen auf einen menschenfreundlichen Dialog setzt, der die positive Gestaltung eines Gemeinwohls anstrebt, dabei jedoch parteiisch ist. Soll und kann man extremen Positionen gegenüber, die erkennbar ethisch problematisch sind, tolerant und offen sein, sie als gleichwertige Stimme im Diskurs verstehen, muss man sie nicht argumentativ deutlich zurückweisen? (9) Wo liegen die Grenzen eines Diskurses, wenn dieser auf Rücksicht und Teilhabe gegenüber Minderheiten im Ganzen einer Gemeinschaft angelegt ist? Was uns Hannah Arendt aber besonders ins Bewusstsein ruft: Das Versprechen der Aufklärung auf eine in menschlicher Gemeinschaft möglichen, im Gespräch von Menschen zu entwickelnden humanen Gesellschaft. Und dass damit auch der Egoismus transformiert werden kann zu einer selbstwirksam-resonanten tätigen Individualität. Es ist die Menschheit selbst, die es in der Hand hat, wie die Dinge sich weiter entwickeln. Hannah Arendts Überlegungen zielen auf eine Revision und Neuausrichtung des Sozialen – eine Stärkung humaner Zusammenarbeit, welche Resonanz anstrebt, ökonomisches Handeln neu bewertet und ihm eine relevante Funktion zuweist. Für solche Überlegungen, Gespräche und entsprechendes Handeln wäre jetzt die Zeit!

Die Verantwortung der Gesellschaft

Es ist aktuell besonders Martha Nussbaum, welche diese Perspektiven eines Human Development mit dem philosophischen Paradigma des Capability Approachs, des Fähigkeitenansatzes, entwickelt hat. Sie geht der Frage nach, was Menschen in die Lage versetzt – befähigt –, zu leben und zu handeln. Dazu zählt sie elf Merkmale anthropologischer Konstitution des Menschen auf. Diesen sollten im gesellschaftlich organisierten Leben befähigende Möglichkeiten korrespondieren, um sie realisieren zu können. Es geht also nicht nur um die Forderung bestimmter Rechte persönlichen Lebens anhand anthropologischer Merkmale, sondern auch um die Verantwortung einer Gesellschaft dafür, das diese für den einzelnen realistisch erreichbar sind. Hier seien einige exemplarische Wesensmerkmale und deren korrespondierende gesellschaftliche Grundbedingungen genannt:

• Wesensmerkmal des Menschen ist seine Sterblichkeit. Entsprechend gehört es zu den gesellschaftlich bereitzustellenden Grundbefähigungen, ein lebenswertes Leben führen zu können und nicht vorzeitig sterben zu müssen.

• Die Beziehung und Verbundenheit mit anderen Menschen ist eine anthropologische Konstante, welche Teilhabe, Anerkennung und Anteilnahme/Empathie umfasst. Die Gesellschaft muss dementsprechend soziale Interaktion und Gemeinschaft mit anderen ermöglichen sowie vor Diskriminierung und Ausgrenzung schützen.

• Der Mensch ist nicht allein ein soziales Wesen, sondern hat das Bedürfnis nach Abgrenzung und Singularität. Entsprechende Freiräume in, aber in Abgrenzung von Gesellschaft ermöglichen individuelle Selbstformation.
(Vgl. Nussbaum 2019:41f.)

Es sind solche Merkmale, welche in dem von Hannah Arendt geforderten menschenfreundlichen Gespräch bewegt werden können. Sie bieten in ihrer allgemeinen Form die Möglichkeit einer kritischen Revision unserer gesellschaftlichen Lage; mit ihnen kann nach konkreten Lösungen für eine Überwindung und Transformation unserer gesellschaftlichen Gegebenheiten hin zu sozialen und humanen Verhältnissen gesucht werden. Das muss in einem demokratischen Diskurs geschehen, der Individuum und Gesellschaft zu einem gedeihlichen Gemeinwohl verbindet.

Partizipative Welterfahrungen

Abschließend einige Anmerkungen zu individuellen und gesellschaftlichen Perspektiven, welche über die Aktionsstrukturen des Egoismus hinaus dem Menschen ein neues, erweitertes Verständnis seiner selbst sowie seines Denkens und Handelns anbieten. Die Resonanz-Soziologie Hartmut Rosas stellt den Imperativen ökonomischer Funktionalität partizipative Welterfahrungen gegenüber, eine persönliche Beziehung zu den Dingen der Erfahrung. Ich denke, dass mit solchen Resonanzerfahrungen ein Ansatz verbunden sein kann, individuell bedeut same Transformationsräume zu entwickeln, welche widerständig zu egoistisch-funktionalen Rollenmustern unserer Ökonomie stehen und gerade in ihrer individuellen Bedeutung neue Formen sozialer Gemeinschaft möglich machen. Manche Formen von Berufsarbeit agieren rückgebunden in ihren rahmenden Bedingungsgefügen hoch spezialisierter Produktions- und Arbeitsverhältnisse. Um sich aus solchen ökonomisch fragmentierenden Abhängigkeiten zu befreien, bedarf es Möglichkeiten einer Expansion. Solche Überschreitungen ökonomischer Rahmung gelingen in Selbstbildung, welche nicht unbedingt die erforderlichen Kompetenzen gesellschaftlichen Handelns entwickelt, sondern eine spezifisch individuelle Performance modelliert. Diese Selbstbildung kann man in Referenz zum Pragmatismus an einem exemplarischen Motiv beschreiben.

Übungswege

Richard Sennett geht in seinem Buch Handwerk der Frage nach, ob und wie bei fortschreitender, sich differenzierender Spezialisierung und zunehmend funktionaler Arbeitsteilung Formen einer individuell und gesellschaftlich sinnstiftenden Tätigkeit möglich sind. Betrachtet man die Hand als ein besonderes menschliches Werkzeug, so greift und begreift sie ihre Objekte zugleich, denn in der sinnlichen Erfahrung erweisen diese sich durchaus als widerspenstig. Die Hand muss ihnen für eine gelingende Tätigkeit die nötige Achtung entgegenbringen. Der Weg der Hand zu einem solchen Können ist Übung als individuelle Praxis.

Mit Übung arbeitet man sich am Widerstand der Dinge ebenso ab, wie man am Unvermögen erwacht, wächst und reift, es in Fähigkeiten transformiert. Der lange Atem in der Tätigkeit bildet zugleich Widerstandskraft, Belastbarkeit, Verantwortung, Mut und Stärke. Übung ist damit der Weg einer Selbstbildung, die eigenen Fähigkeiten zu kultivieren; Übung ermöglicht eine Reifung zur Routine, zu Können als Meisterschaft. Man denke beispielsweise daran, dass die Beherrschung eines besonderen Rhythmus, wie er sich bei der Hammerführung eines Schmiedes finden lässt, erst einen effektiven Arbeitsprozess garantiert. Ein solches souveränes Können verleiht Selbstwert und Würde. Es ist nicht unbedingt an funktionale Notwendigkeiten gebunden, sondern weist Züge eines Spiels im Sinne Friedrich Schillers auf: Man will nicht bloß produzieren, auch nicht nur gute Dinge machen, sondern – man will die Dinge gut machen.

In dieser Hinsicht wären insbesondere auch ästhetische Erfahrung und künstlerisches Schaffen zu betrachten (10). Es sind demnach die widerständigen Irritationserfahrungen einer Unverfügbarkeit der Dinge der Welt, welche Resonanz gelingen lassen, denn besonders an solchen Erfahrungen, die uns persönlich wichtig sind, die uns zu schaffen machen, an denen wir uns abarbeiten, entfalten wir unsere Tätigkeit als Individuum. Sie sind uns wichtig, an ihnen entwickeln wir Können, Selbstwertgefühl und Empathie zur Welt, zu unserer sozialen Gemeinschaft. Wenn wir gegenüber Unverfügbarkeit nicht in egoistischer Selbstbezogenheit und deren alten Strukturen verharren, sondern performative Aktivitäten entwickeln, welche eine Emergenzleistung über uns hinaus formieren, bewirkt Selbstwirksamkeit auch resonante Weltbeziehungen als Interdependenzrelation. Form und Bedeutung dieser Wechselwirkung von interpersonaler und intrapersonaler Erfahrung und Performation bezeichne ich als Souveränität: Souveränität ist eine aktiv modellierte Relation, eine Beziehungsmodalität, ein Wechselspiel im zentripetal-zentrifugal organisierten Wirkungszusammenhang (Soetebeer 2020).

Souveränität in diesem Sinne ist die Bedingung der Möglichkeit, unser Zusammenleben zu gestalten. Die Krisensituation macht uns den Vorschlag, uns aus den stereotypen Rollenmustern unseres Egoismus zu emanzipieren: unsere Transformation und Emergenz in neue Lebensbedingungen zu gestalten.

Jörg Soetebeer

Erschienen in: Sozialimpulse Nr. 1 / März 2021

Endnoten Teil 3:

(9) Mit dieser Frage ist selbstverständlich kein Verbot und keine Zensur intendiert, sondern die Haltung, mit der man bspw. Verschwörungsmythen entgegen tritt. Dass diese sich Gehör verschaffen, ist mit den Möglichkeiten, auch finanzieller Art, in der Mediengesellschaft sichergestellt und durch ihre starke Präsenz offensichtlich.

(10) Dieser Absatz ist sinngemäß übernommen aus Soetebeer 2020:96f..

Literatur

Arendt, Hannah (2020): Freundschaft in finsteren Zeiten, Gedanken zu Lessing, hrsg. von Matthias Bormuth, Berlin, Matthes & Seitz.

Nussbaum, Martha (2019): Fähigkeiten schaffen. Neue Wege zur Verbesserung menschlicher Lebensqualität, Freiburg & München, Karl Alber.

Rosa, Hartmut (2020): Unverfügbarkeit, Wien & Salzburg, Residenz.

Soetebeer, Jörg (2020): Zwischen Resonanz und Autonomie – Überlegungen zu Souveränität aus anthropologischer Sicht im Anschluss an Ernst Cassirer, in: Edwin Hübner, Leonhard Weiss (Hrsg.): Resonanz und Lebensqualität. Weltbeziehungen in Zeiten der Digitalisierung. Pädagogische Perspektiven, Opladen, Berlin & Toronto, Barbara Budrich, S. 73-106.

Dr. Jörg Soetebeer, Schüler der Hiberniaschule in Wanne-Eickel. Studium der Germanistik und Philosophie an der Ruhruniversität Bochum. 19 Jahre Oberstufenlehrer an der FWS Eckernförde. Seit 2003 Dozent für bildungstheoretische und pädagogische Grundlagen der Waldorfpädagogik am Waldorflehrerseminar Kiel, Seminarleitung ab 2012; Veröffentlichungen zu Bildung, Philosophie, Germanistik und Pädagogik.