Propaganda  im Westen?

Es ist allgemein bekannt, dass das erste Opfer eines Krieges die Wahrheit ist. So frei die Medienlandschaft in Demokratien gegenüber Diktaturen auch ist: Absolut ist die Pressefreiheit noch nicht. Einige Symptome aus den letzten Wochen.

In den letzten Jahren, aber insbesondere jetzt, da der Krieg ausgebrochen ist, wird allgemein von ‹russischer Propaganda› gesprochen. Das Wort ‹Propaganda›, von lateinisch ‹propagare›: ‹verbreiten›, das ursprünglich kein abwertender Begriff war, könnte in seiner Originalbedeutung auf fast jede Form von Informationsmedium angewendet werden. Das Wort hat jedoch im 20. Jahrhundert eine eindeutig negative Konnotation erhalten. Die Verwendung dieses Begriffs disqualifiziert heute von vornherein das Medium, dem er zugeschrieben wird. Natürlich wird jede Form von autoritärem Staat, der nur kontrollierte Medien zulässt, zu Recht angeprangert. Aber ist die Frage der Informationsfreiheit in liberalen Ländern, in denen die Informationen vom Staat weniger kontrolliert werden, damit gelöst?

Ausgeblendete Standpunkte

In seiner berühmten Harvard-Rede von 1969 formulierte der Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn, der die Gewalt des sowjetischen Totalitarismus am eigenen Leib erfahren hatte, eine aufschlussreiche Beobachtung: «Man entdeckt allmählich eine gemeinsame Tendenz der Präferenzen innerhalb der westlichen Presse als Ganzes. Es ist eine Mode, es gibt allgemein akzeptierte Urteilsmuster, es mag allgemeine Unternehmensinteressen geben, aber der Gesamteffekt ist nicht Wettbewerb, sondern Vereinheitlichung. […] Es gibt zwar keine offene Gewalt wie im Osten, aber eine von der Mode diktierte Auswahl und die Notwendigkeit, dem Massenstandard zu entsprechen, verhindern häufig, dass unabhängig denkende Menschen ihren Beitrag zum öffentlichen Leben leisten. […] Dies führt zu starken Massenvorurteilen, zu einer Blindheit, die in unserer dynamischen Zeit sehr gefährlich ist. So gibt es zum Beispiel eine selbsttäuschende Interpretation der gegenwärtigen Weltlage. Sie wirkt wie eine Art versteinerter Panzer um die Köpfe der Menschen.»

Just während des Filmfestivals von Barcelona, stellte der amerikanische Regisseur und vierfache Oscar-Preisträger Oliver Stone seinen neuesten Dokumentarfilm ‹JFK  Revisited› vor. Stone ist einer jener politisch links stehenden Amerikaner, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nutzen, um die fragwürdigen Seiten der  US-Machtpolitik aufzudecken. «Die Geheimdienste haben uns in vielen Angelegenheiten in die Irre geführt, vor allem in Kriegen  –  in Vietnam, zweimal im Irak, in Afghanistan, in Syrien …», erklärte er 2020 in einem Interview. Mehrmals beschwerte sich Stone über die großen Schwierigkeiten, seine Filme zu verbreiten. In der Tat sind seine letzten Arbeiten sehr wenig bekannt: sein vierstündiges Interview mit Wladimir Putin, ‹The Putin Interviews› (2016), oder die Dokumentarfilme, die er mit dem ukrainischstämmigen Regisseur Igor Lopatonok schuf: ‹Ukraine on Fire› (2016) und ‹Revealing Ukraine› (2019). Das Schweigen um diese Filme ist angesichts der Bedeutung der Themen und der Bekanntheit der Regisseure erstaunlich und bestand ja auch lange vor dessen ungebrochener Nähe zum russischen Präsidenten selbst nach dessen Einmarschbefehl in die Ukraine.

Freiheit und Beschränkung

Im Frühjahr erreichten uns zwei weitere Meldungen, die zeigen, dass die Meinungsfreiheit auch in den westlichen Ländern ein Kampf ist. Zum einen die Ankündigung der Europäischen Union, einen ‹Digital Services Act› (DSA) einzuführen, der die Aktivitäten in der digitalen Welt regulieren soll. Das angekündigte Ziel ist natürlich der Schutz des Einzelnen vor Missbrauch, was gerechtfertigt sein kann. Es ist jedoch zu beachten, dass es sich hierbei um einen Eingriff des Staates in den öffentlichen Raum der Meinungsäußerung handelt, und wenn dieser Eingriff vorgeben will, was wahr oder falsch ist, dann beginnt der Staat, die individuelle Urteilsbildung vereinnahmen zu wollen. Auch in den  USA  wurde kürzlichein ‹Disinformation Governance Board› von der Regierung angekündigt. In den letzten Jahren schon war im Westen eine erhebliche Zunahme der Zensur zu beobachten, insbesondere im Kontext der Pandemie, aber auch im Kontext des Krieges. Nicht nur die von Russland finanzierten Nachrichtenkanäle wurden verboten (‹Russia Today› und ‹Sputnik›), sondern Youtube hatte zum Beispiel in August 2021 bereits eine Million Videos wegen «gefährlicher Fehlinformationen über das Coronavirus» entfernt, laut Neal Mohan, Leiter des Produktmanagements.

Und in derselben Woche erfuhren wir, dass Elon Musk, der reichste Unternehmer der Welt, Twitter, eines der mächtigsten sozialen Netzwerke der heutigen Zeit, gekauft hat. Er tätigte den Kauf mit der Begründung, dass das Netzwerk nicht transparent sei und ungerechtfertigte Zensur praktiziere. Seine Absicht sei es, die Meinungsfreiheit zu verteidigen, um die Demokratie zu stärken. Viele Beobachter der westlichen Presse haben den Kauf scharf kritisiert und sehen die Gefahr, dass der Milliardär die Macht über die Informationen übernimmt. Einer der Gründer von Twitter, Jack Dorsey, sagte jedoch, dass er ihm vertraue. Musk hatte sich bereits im Kontext des Krieges in der Ukraine hervorgetan, indem er den Ukrainern freie Zugänge zu seinem Weltraumnetzwerk ‹Starlink› anbot, sich aber gleichzeitig weigerte, im Namen der Pressefreiheit, ‹Russia Today› zu zensieren. Wie dem auch sei, der Milliardär wird aufgefordert werden, sich an die von den Staaten und insbesondere der Europäischen Union auferlegten Vorgaben zu halten.

Die Wirkung auf das Herz

Letztlich werden weder die Europäische Union noch Elon Musk oder Oliver Stone in der Lage sein, uns von Propaganda zu befreien. Die Bildung eines objektiven Urteils hängt vollständig von unserer individuellen Erkenntnisaktivität ab, von unserer Fähigkeit, unsere Informationsquellen zu diversifizieren und zu überprüfen, unsere persönlichen Neigungen und Vorurteile zu überwinden, um die verschiedensten Standpunkte zu verstehen, aber auch sich eines zu schnellen Urteils zu enthalten  –  vorsichtig beobachten, geduldig abwarten, viele Fakten selber sammeln und nicht nur den großen Medien einfach glauben. Und neben den äußeren Fakten könnte es auch wesentlich sein, die Aufmerksamkeit auf das eigene Herz zu richten, auf das innere Erleben, das diese oder jene Berichterstattung in uns hervorruft. Denn die Ereignisse in der Welt, insbesondere die Kriege, sind nichts anderes als die äußere Manifestation dessen, was im Inneren, in den Seelen der Menschen, geschieht.

Louis Defèche

Erschienen in: Das Goetheanum –

Wochenschrift für Anthroposophie

Nr. 18, 6. Mai 2022