Die Träume der Technik

Die Gesundheitskrise hat kontrastreiche, manchmal radikale Reaktionen hervorgerufen. Im Hintergrund steht eine Konfrontation von Weltanschauungen, eine wenig bewusste Debatte zwischen Technophilie, Technoskepsis und Technophobie.

Ob es sich um Impfungen oder Tracking-Technologien  –  QR-Code  –  oder um Fernarbeit handelte, die große Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Technologie wurde bei der Covid-Pandemie zentral. Einige Menschen vertrauten den neuen Technologien und waren begeistert, andere betrachteten sie mit einem mehr oder weniger skeptischen Blick und wieder andere lehnten sie sofort ab.

Aber auch die Ökokrise wirft die Frage nach der Technik auf: Welche Technologien können als umweltfreundlich angesehen werden? Wie stehen wir zur Kernenergie? Sollten wir unsere Nutzung von Technologie vollständig ändern, auf ein absolutes Minimum reduzieren? Sollten wir zu einer völlig natürlichen Lebensweise zurückkehren? Was ist mit der Produktion, der Versorgung und der Nutzung der Energie, die wir verbrauchen?  –  Und der Krieg, der uns so sehr beschäftigt, wirft auch ähnliche Fragen auf. Benötigt die Menschheit wirklich Waffen? Welchen Sinn haben die enormen Investitionen in Spitzentechnologien, deren funktionale Ziele Zerstörung und Tod sind? Hierzu kommen auch die Technologien, die in der Hochfinanz eingesetzt werden, wofür die Aladdin-Software von Black Rock ein Beispiel ist.(1)  Auch die Eroberung des Weltraums, des Sternenhimmels, rückt derzeit wieder in den Vordergrund, mit den Projekten Starlink und SpaceX von Elon Musk, aber auch mit den russisch-chinesischen Plänen für den Bau einer Mondbasis ab 2026. Die Technik steht im Mittelpunkt der Träume und schlimmsten Albträume der Menschheit.

Wird dieser Wettlauf um die Technologie, die den Himmel, den Kosmos, das soziale und wirtschaftliche Leben erobert, nicht nur für den blinden wirtschaftlichen Profit auf Kosten der wahren menschlichen Bedürfnisse geführt? Dieser Aspekt ist eindeutig, aber der zutiefst menschliche Charakter der Technik kann auch nicht geleugnet werden. Die Technik hat den Menschen immer begleitet, sie charakterisiert den Menschen, sie ist die Grundlage jeder menschlichen Zivilisation. Gleichzeitig bildet sie die Hintergrundwelle für alle großen Probleme der heutigen Zivilisation. Es stellt nicht nur die Frage nach ihrer tieferen Natur, sondern auch die Frage nach dem Wesen der technischen Objekte: Können Maschinen wirklich selbständig und intelligent werden oder gar ein Bewusstsein haben? Wie denken wir, oder besser, wie träumen wir von der Technik?

Laut Rey Kurzweil, einem der Propheten einer der einflussreichsten und radikalsten technophilen Auffassung, dem Transhumanismus, «werden wir es schaffen, Maschinen mit einer logischen und auch emotionalen Intelligenz auszustatten, die es ihnen ermöglicht, lustig und sexy zu sein und menschliche Emotionen zu verstehen».(2)  Der Transhumanismus hat das Ziel, den Tod durch Technologie zu überwinden, und sieht in der Verschmelzung von Mensch und Maschine das Ideal der Perfektion, das es zu erreichen gilt. Der Mensch wäre dazu berufen, sein Bewusstsein in das technische Objekt zu exportieren  –  er träumt sich in die Maschine hinein.

Hinter dem Transhumanismus steht eine andere, ältere Strömung, die weniger bekannt und dennoch wieder aktuell wird. Nach Michel Eltchaninoff, der gerade ein Buch darüber veröffentlicht hat,(3)  stellt der «russische Kosmismus» die ursprüngliche Matrix des amerikanischen Transhumanismus dar, obwohl er gleichzeitig im Gegensatz zu ihm steht. Er stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts. Nikolai Fjodorow, ein diskreter Moskauer Bibliothekar, der vom orthodoxen Christentum und einer radikalen Kritik an der industriellen Zivilisation geprägt war, wies der Technik eine mystische und religiöse Mission zu: die Toten auferstehen zu lassen, um die Unsterblichkeit zu erlangen, die Natur zu beherrschen, um einer Gesellschaft zu dienen, die zu natürlicheren Formen zurückkehrt, aber auch den ganzen Kosmos zu verwandeln und zu bevölkern. Für den Kosmismus interagieren der Mensch und der Kosmos wie Musikinstrumente. Das große Ziel sei es, Weltfrieden zu erreichen. Ein Kosmist wurde einer der Väter der Raumfahrt  –  er gab seinen Namen der Tsiolkovski-Gleichung, einer grundlegenden Gleichung der Raumfahrt, die noch heute zum Antrieb von Raketen verwendet wird. Elon Musk zitiert Tsiolkovski gerne: «Die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber man verbringt nicht sein ganzes Leben in einer Wiege.» Ein ‹kosmischer›  –  verrückter?  –  Traum der Technik, der die Eroberung des Weltraums motiviert?

Gegenüber diesen verschiedenen Formen der Technophilie gibt es auch ‹Technophobe›, die sich aus der modernen Technologie herausträumen, wie die mehrhundertjährige Bewegung der Amishs beispielsweise. Aber Technoskepsis ist nicht notwendigerweise radikal und drückt sich auch in dem Streben aus, nicht vollständig in der technischen Welt aufzugehen und unsere Verbindung zur Natur und zur Erde zu stärken. Dem Philosophen Bruno Latour folgend, geht es eher darum, das menschliche Bewusstsein inmitten des Lebendigen, inmitten von ‹Gaia›, dem Organismus Erde, zu verankern.(4)  Sollten wir angesichts der technischen Welt, die uns von unserem natürlichen Teil, unserem Körper abschneidet, unser Bewusstsein nicht eher wieder in der Erde verwurzeln und lernen, mit der Erde zu träumen? Hier zeichnet sich ein Gegengewicht zu einem ungezügelten technischen Fortschritt ab. Für andere europäische Philosophen, wie Bernard Stiegler und sein Projekt ‹Ars Industrialis›, geht es darum, die Technologie in der sozialen Dimension zu verwurzeln: Um der Bedrohung einer Automatisierung des Geisteslebens durch die Informationstechnologien entgegenzuwirken, sollten wir überlegen, wie man den Spieß umdrehen kann, damit die Technologien vollständig in den Dienst eines freien Geisteslebens gestellt werden.

Welche Träume auch immer es sind, alle die ihnen folgen, sind sich einig darin, dass es sich um eine spirituelle Wende der Menschheit handelt. Aber wohin? Ist es nicht wichtig, dass wir in diesem Traum der Technik erwachen und zu seinen Akteuren werden? Die technophilen Träume und die technophoben Albträume, die unsere Zivilisation unterbewusst prägen, können, ins Bewusstein gehoben, Quelle vielfältiger Debatten werden. Es sind Debatten über die Stellung von uns Menschen in einer technisierten Welt. Dafür sollten wir mit unserem Bewusstein die technisierte Welt ebenso durchdringen wie die lebendige und die soziale Welt, wie den Kosmos. Dieses Durchdringen verlangt ein Verstehen und ein Hineinfühlen gleichermassen, bedeutet Distanz und Nähe zugleich.

Louis Defèche

Erschienen in: Das Goetheanum – Wochenschrift für Anthroposophie Nr. 19, 13. Mai 2022

Fußnoten

1- Olivier Christe, Lorenz Naegeli, Eine Super-Software namens Aladdin kontrolliert einen wichtigen Teil des globalen Vermögens. Wie riskant ist das?, nzz-Magazin, 18. Dezember 2021 https://magazin.nzz.ch/hintergrund/ealaddin-blackrocks-maechtige-super-software-ld.1660948.

2- Fabien Benoit, Portrait of Ray Kurzweil, l’homme qui voulait faire revivre son papa. 10. April 2016, in: Les Inrockuptibles.https://www.lesinrocks.com/actu/portrait-de-ray-kurzweil-lhomme-voulait-faire-revivre-papa-76484-10-04-2016/.

3- Michel Eltchaninoff, Lénine a marché sur la lune. La folle histoire des cosmistes et transhumanistes russes. Actes Sud 2022.

4- Bruno Latour, Kampf um Gaia. Suhrkamp 2017.