Morgensterns ‹höchster Ehrentag›

Das schönste Zeugnis einer Verbundenheit und Wertschätzung im zu Ende gehenden 150. Geburtsjahr des Dichters Christian Morgenstern ist wohl der Stadt Leipzig gelungen.

Am 21. September haben das Kulturamt der Stadt sowie die Morgenstern-Gesellschaft Werder (Havel) und die Leipziger Künstlerin Katja Zwirnmann eine Gedenktafel feierlich enthüllt, die an der Fassade des ehemaligen Hôtel de Pologne in der Hainstraße 16–18 angebracht ist. Auf ihr steht: «An diesem Ort nahm der Dichter und Übersetzer Christian Morgenstern vom 28. Dezember 1913 bis zum 2. Januar 1914 an einem von Rudolf Steiner gehaltenen Vortragszyklus teil. Am Silvesterabend leitete Steiner eine Lesung aus dem noch unveröffentlichten Gedichtband Morgensterns ‹Wir fanden einen Pfad› mit einer bewegenden Ansprache ein. Das Erlebnis bezeichnete der Dichter als ‹den höchsten Ehrentag meines Lebens›.» Der feierliche Moment der Enthüllung in dieser verkehrsberuhigten Einkaufsstraße der Innenstadt wurde noch unterstrichen durch das eigens hierfür angereiste fulminante Alphornensemble Weimar.

Wer ein wenig gräbt im kulturellen Gedächtnis des Ortes, kann Erstaunlichstes zutage fördern. Eine Art Uraufführung fand an diesem Silvesterabend in Leipzig statt. Auch im Sinne einer einmaligen Begegnung zwischen geistigen Persönlichkeiten. Die Gedichte wurden von Marie von Sivers rezitiert. Morgenstern, schon ohne Stimme, saß fiebrig in der letzten Reihe des großen Saales nahe der Tür, um notfalls nicht durch Husten zu stören. Er zeigte sich tief ergriffen, seine Gedichte so erklingen zu hören, wie er sie gemeint habe. Davon erzählt eindringlich Michael Bauer in seinem späteren Lebensbild über den Dichter.  –  Auch Friedrich Kayssler, als Galgenbruder ‹Gurgeljochem› seinem Freund seit Jugendjahren verbunden, ist an diesem Abend anwesend.

Und es kommt zu einer Begegnung Morgensterns mit dem russischen Dichter Andrej Belyj, deren spätere Schilderung in dem Biografie-Roman ‹Verwandeln des Lebens› (in der Übersetzung von Swetlana Geier, 2011 im Futurum-Verlag, Basel) nicht berührender sein könnte. Morgenstern zu Belyj: «Ich freue mich, ich freue mich, aber ich kann nicht sprechen …» (S. 215). Belyi erinnert sich, wie Steiner erschüttert von Morgenstern war, «die Wirkung der Anthroposophie in Morgenstern übertraf alles, was er erwarten konnte» (S. 214). Und Belyj selbst ist tief beeindruckt von der fürsorgenden Tatkraft und Umsicht sowie der feinen künstlerischen Empfindung Margareta Morgensterns, dankbar und überwältigt davon, «dass es auf der Welt solche Menschen gibt».  –  Leipzig hat im Morgenstern-Jubiläumsjahr ein Zeichen gesetzt, das in seiner Bescheidenheit Größe zeigt.

Manfred Kannenberg-Rentschler

Erschienen in: Das Goetheanum – Wochenschrift für AnthroposophieNr. 45, 5. November 2021