Die Freie Hochschule  für Geisteswissenschaft – TEIL 1

Der Wissenschaftscharakter der Anthroposophie wurde zuletzt öffentlich in massiver Weise hinterfragt oder prinzipiell in Abrede gestellt. Das Goetheanum und andere anthroposophische Institutionen haben darauf zu antworten versucht, wohl wissend, dass die Vorwürfe in einem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang stehen, oft genug mehr Instrument und Methode der Ablenkung und Diffamierung als Ausdruck eines echten Erkenntnisinteresses oder Wahrheitswillens sind.

Das Goetheanum versteht sich als Freie Hochschule für Geisteswissenschaft mit verschiedenen Fachbereichen (Sektionen), als ein Ort der Forschung, Ausbildung und Lehre, mit einem inneren geistigen Kern, der Anthroposophie und der aus ihr entstandenen ‹esoterischen Schule des Goetheanum› (1)  –  als Lehrgang einer systematischen inneren Schulung, der für alle Fachbereichsaktivitäten von zentraler Bedeutung ist. Das Bild einer solchen Hochschule ist in der Außenwelt und akademischen Landschaft gegenwärtig nicht einfach zu vermitteln; universitäre Einrichtungen haben gemeinhin keinen internen Schulungslehrgang. Das könnte sich jedoch in Zukunft ändern  –  und das Modell des Goetheanum hat einiges für sich.

Das Bild  –  die Hochschul-Vision und -Intention Rudolf Steiners  –  ist jedoch auch in der Innenwelt der Anthroposophischen Gesellschaft, als der faktischen Trägerin der genannten Hochschule, nur bedingt kommunizierbar. Viele ihrer Mitglieder verstehen unter der Hochschule ihre Treffen zu den Inhalten der Ersten Klasse. Die Hochschule ist für sie eine esoterische Schule  –  ein ‹Hochschulkreis› wird in diesem Zusammenhang als ein Kreis von Klassenmitgliedern und/oder Vermittlern der Stunden verstanden, ein ‹Hochschulgespräch› als ein Austausch untereinander. An vielen Orten haben die Vermittlerkreise wenig oder keinen Bezug zu den Fachsektionen und fachlichen Arbeiten der Anthroposophie, mitunter nicht einmal mehr zum aktiven Teil der Anthroposophischen Gesellschaft am Ort  –  und gestalten ein Eigenleben. Nicht selten wird argumentiert, dass dieses Hochschulverständnis  –  als eine rein esoterische Schule  – das der Weihnachtstagung 1923/24 sei. Damals habe Steiner den Kontakt zur akademischen Wissenschaft abgebrochen und alles auf eine neue spirituelle Basis gestellt. Entsprechende Zitate dienen als Beleg.

Für das Goetheanum sind die damit verbundenen Fragestellungen des Selbstverständnisses und der Identität existenziell  –  und es wird einiges davon abhängen, ob es in den nächsten Jahren gelingt, zu einer größeren konzeptionellen Klarheit über die Hochschule zu kommen, auch  –  aber keinesfalls nur  –  in terminologischer Hinsicht. Was meint man mit dem Begriff der ‹Freien Hochschule für Geisteswissenschaft›? Insofern man sich in der Beantwortung dieser Frage mit auf die Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung und auf die Absichten Rudolf Steiners stützen möchte, ist die historische Besinnung und Bewusstseinsbildung obligat. Einen Markstein in der Entwicklung der Dornacher Hochschule unter Rudolf Steiner bildeten die Vorgänge des Jahres 1922. (2)

Der Umbruch des Jahres 1922

In Deutschland wandte sich Steiner im Januar und Mai 1922 noch einmal mit zwei professionell organisierten Vortragstourneen an die große Öffentlichkeit  –  und versuchte den besonderen Wissenschaftscharakter seiner anthroposophischen Geisteswissenschaft aufzuzeigen. (3)  Auch führte er mit seinen Mitarbeitern zwei «Hochschulkurse» in Berlin und Den Haag durch, mit überaus gehaltreichen und anspruchsvollen Programmen. In Berlin war jeder der sieben Tage des Hochschulkurses im März 1922 einer speziellen Fachwissenschaft gewidmet und stand unter fachwissenschaftlichem Vorsitz (Anorganische Naturwissenschaft / Organische Naturwissenschaft und Medizin / Philosophie / Erziehungswissenschaft / Sozialwissenschaft / Theologie / Sprachwissenschaft). Steiner hielt jeweils den Morgenvortrag, dann folgten bis zu fünf Fachvorträge  –  von Akademikern und Akademikerinnen aus der Anthroposophischen Gesellschaft, die über die Durchdringung des Fachgebietes mit anthroposophischen Methoden und Perspektiven sprachen. (4)  An vier Tagen des Hochschulkurses sprach Steiner zusätzlich am Abend im Oberlichtsaal der Berliner Philharmonie; andere Dozenten und Dozentinnen trugen an der Berliner Universität vor und das Dornacher Eurythmie-Ensemble gastierte im vollbesetzten Deutschen Theater. Auch beim Wiener ‹West-Ost-Kongress› im Juni 1922 gab es umfangreiche fachwissenschaftliche Veranstaltungen. (5)

Die ‹Hochschulkurse› aber waren in den Reihen der Anthroposophischen Gesellschaft umstritten und wurden von vielen als Veräußerlichung und akademische Anpassung der Anthroposophie empfunden. Vor Mitgliedern in Stuttgart und Wien ging Steiner im Mai und Juni 1922 auf die Kritik ein. Er verstehe die Sorge und sehe aktuell einen «Abgrund»  –  ohne «Brücke» und «Vermittlung»  –  zwischen der spirituellen Studienarbeit innerhalb der anthroposophischen Zweige und der öffentlichen Vertretung der neuen Geisteswissenschaft. «Und wir können eben die Brücke nicht schlagen, weil einfach die Mitarbeiter dazu fehlen, und weil denjenigen, die Mitarbeiter sind, die Zeit fehlt, diese Brücke zu schlagen von dem, was die Welt heute von uns fordert  –  wissenschaftliche Begründung der Anthroposophie  –  und dem, was aus der Esoterik heraus gearbeitet werden muss.» (6)  In Wien sagte Steiner den Mitgliedern, es führe gegenwärtig kein Weg daran vorbei, die Anthroposophie öffentlich vor dem wissenschaftlichen Zeitbewusstsein zu vertreten  –  insbesondere seit der Eröffnung des Goetheanum als einer ‹Freien Hochschule für Geisteswissenschaft› sei man dazu gezwungen. Es handele sich jedoch nicht darum, die Anthroposophie der heutigen Wissenschaft anzunähern, sondern die Wissenschaft mit Anthroposophie zu durchdringen. Die «Fortbildung des Esoterischen» finde in Dornach parallel dazu statt und sei durchaus Realität. (7)  Steiners Bilanz des Den Haager Hochschulkurses, auch der übrigen fachwissenschaftlichen Veranstaltungen des Jahres 1922, fiel ausgesprochen positiv aus. Nach der Rückkehr aus Den Haag würdigte er in einer langen Besprechung alle Beiträge seiner Mitarbeiter  –  Elisabeth Vreede verbinde «gründliche anthroposophische Einsicht mit einer ausgezeichneten Klarheit darüber, wie Anthroposophie in die Einzelwissenschaften eingeführt werden soll», schrieb er beispielsweise; (8)  damit war Wesentliches über sie, aber auch über das Anliegen der Hochschulkurse gesagt. «In Holland war mein Erlebnis die Arbeit im Kreise der befreundeten Mitarbeiter. In ihrer Arbeit lebte ich mit.» (9)  Kritisch äußerte sich Steiner im spannungsreichen Jahr 1922 lediglich über die anthroposophischen Mediziner des Klinisch-Therapeutischen Instituts in Stuttgart und über einige Naturwissenschaftler am Goetheanum. (10)  Die Ärzte um Friedrich Husemann waren ihm, auch in ihrer öffentlichen Positionierung, viel zu furchtsam und bedächtig, zu unentschlossen und devot gegenüber den naturwissenschaftlichen wie schulmedizinischen Autoritäten und Paradigmen. Auch mit der Vorbereitung einer naturwissenschaftlichen Tagung am Goetheanum Ende 1922 war Steiner unzufrieden; in Gesprächen mit Lili Kolisko, Ita Wegman und Albert Steffen missbilligte er das ihm von den Glashaus-Mitarbeitern um Oskar Schmiedel vorgelegte Programm und den Duktus desselben («… dass das Wissenschaftliche so unanthroposophisch vorgetragen werde»). Er vermisse den Mut, für das Geistige wirklich einzustehen. (11)

Vom Neuanfang der Weihnachtstagung

Wenige Tage nach dem Gespräch mit Wegman und Steffen brannte das Goetheanum, die Stätte der ‹Freien Hochschule für Geisteswissenschaft›, komplett nieder. 1923 gab es keinen einzigen Hochschulkurs mehr; die Hochschule als geistige Entität und Zielsetzung war nicht zerstört, wohl aber ihr Gebäude. Angesichts der Ruine und angesichts der Aggressivität, der seine öffentlichen Vorträge und das Goetheanum  –  bis zu dessen Brandstiftung  –  ausgesetzt gewesen waren, sah Steiner offenbar keinen Sinn mehr darin, auf das Dornacher Vorhaben mit weiteren Vortragstourneen und „Hochschulkursen“ aufmerksam zu machen. Stattdessen versuchte er, die Anthroposophische Gesellschaft von innen zu reorganisieren und sie zu einem effizienten Arbeitsorgan auszugestalten, zu einem Organ für das Wesen der Anthroposophie und zum unterstützenden Instrument der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, von deren Zielsetzung er nicht abging. Bei der Neugründung der Gesellschaft und ihrer Hochschule ein Jahr nach dem Brand sagte Steiner, es gehe in Zukunft darum, nur noch den Impulsen der geistigen Welt zu folgen, im Zeichen der vollen Wahrheit und als Vertreter des anthroposophischen Wesens in der Welt aufzutreten. Anpassungsversuchen, die dahin gingen, die Anthroposophie oder den anthroposophischen Hintergrund aus strategischen Gründen in den Hintergrund zu drängen  –  beispielsweise im Vertrieb der Weleda-Pharmazeutika oder bei der Plakatierung von Eurythmie-Aufführungen in Theatern  –  erteilte er eine eindeutige Absage. Ziel sei nicht die Zustimmung der Umwelt, sondern der Mut, die Anthroposophie in allen Fachgebieten «frank und frei» zu vertreten. Die geistige Welt wolle gegenwärtig menschheitlich einen nächsten Schritt; man solle die Kritiker reden lassen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Eine viel «stärkere Stoßkraft» der anthroposophischen Bewegung sei notwendig, um sich in der Gegenwart wirkungsvoll geltend zu machen. Als der Arzt Willem Zeylmans van Emmichoven die Einrichtung der Medizinischen Sektion begrüßte, die bisherigen Ärztekurse Steiners zwar lobte, aber von einem notwendigen «neuen Reich im Herzen» sprach, akzeptierte Steiner seine Stellungnahme nicht nur, sondern radikalisierte sie in seiner zustimmenden Antwort erheblich. Er sagte u. a.: «Wenn wir dasjenige, was auf unserem Boden medizinisch erwächst, so beschreiben, dass wir den Ehrgeiz haben: Unsere Abhandlungen können bestehen vor den gegenwärtigen klinischen Anforderungen –, dann, dann werden wir niemals mit den Dingen, die wir eigentlich als Aufgabe haben, zu einem bestimmten Ziele kommen […].» (12)  Genau dies aber hatten Friedrich Husemann und seine Kollegen in Stuttgart bisher versucht und auf ihre Art und in ihrem Bereich möglicherweise auch einzelne Naturwissenschaftler in Dornach. Steiner schien mit Entwicklungen abzuschließen, die er bisher toleriert hatte, aber nicht für weiterführend ansah. Das «Zusammenschweißen» der akademischen Arbeit mit der Anthroposophie lehnte er ab und sagte zu Beginn der ersten Klassenstunde: «Mit dieser Stunde möchte ich die Freie Hochschule als eine esoterische Institution wiederum zurückgeben der Aufgabe, der sie drohte in den letzten Jahren entrissen zu werden.» (13)  Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum werde in Zukunft eine esoterische Schule sein. (14)

Peter Selg

Erschienen in: Das Goetheanum –

Wochenschrift für Anthroposophie

Nr. 25-26, 24. Juni 2022

Endnoten

1- GA  270 II, 3. Aufl. 2008, S. 90.

2- Vgl. Peter Selg, «Anthroposophie als ein Streben nach Durchchristung der Welt». Das Krisenjahr 1922 bis zum Brand des Goetheanum. Dornach 2022.

3- Vgl.  GA  80 a, 1. Aufl. 2019 und Peter Selg, Auseinandersetzungen um die Zukunft des Menschen. Rudolf Steiner in Deutschland 1922. Arlesheim 2022.

4- Vgl.  GA  81, 1. Aufl. 1994.

5- Wiederabdruck des Wiener Programmes in Peter Selg, ‹Anthroposophie …›. A. a. O., S. 72 ff.

6- GA  255 b, 1. Aufl. 2003, S. 353.

7- GA  211, 3. Aufl. 2006, S. 198. Vgl. die zu dieser Zeit von Steiner gehaltenen internen Vortragskurse in Dornach, die Ausdruck seiner geistigen Forschung und Lehre waren, z. B.  GA  210–214.

8- GA  82, 2. Aufl. 1994, S. 246.

9- Ebd., S. 250.

10- Vgl. Peter Selg, «Anthroposophie …». A. a. O., S. 24 ff.

11- Vgl. Emanuel Zeylmans van Emmichoven, Wer war Ita Wegman. Eine Dokumentation. Bd 1. Heidelberg 1990, S. 122

12- GA  260, 5. Aufl. 1991, S. 278.

13- GA  270 I, 3. Aufl. 2008, S. 1.

14- GA  270 III, 3. Aufl. 2008, S. 191.

Der zweite Teil folgt in der nächsten Ausgabe.