Wege des Denkens der sozialen Frage in Zeiten
der Pandemie

Teil 1

Die Covid-19-Pandemie trifft uns aktuell als Einzelne und als Gesellschaft wie ein kaum je erlebtes Widerfahrnis: Sie verursacht einen Realitätsschock und konfrontiert uns mit sehr grundsätzlichen Fragen unseres personalen Selbstverständnisses sowie unseres gesellschaftlichen Lebens. Dabei wirkt die Pandemie wie eine große Bremse, welche eine seit zweihundert Jahren scheinbar unaufhaltsame Maschine zum Stoppen gebracht hat: den technisch-industriellen Fortschritt seit dem 18. Jahrhundert der Aufklärung. Zugleich erfährt das persönliche und gesellschaftliche Leben durch die Verordnungen der politisch Verantwortlichen kaum vergleichbare Einschränkungen bezogen auf die jüngere Geschichte Deutschlands. Gesellschaftlich eskaliert unter diesen Vorzeichen eine erhitzte Debatte im öffentlichen Raum, den sozialen Medien und zunehmend auch durch Demonstrationen über die Bedeutung der Covid-19-Pandemie und die Verordnungen. Damit ist die soziale Frage aus aktuellem Anlass auf der Tagesordnung.

Politische Willensbildung und politisches Handeln jongliert mit Maßnahmen und Verordnungen, von denen niemand genau weiß, wie erfolgreich sie sein werden. Das Handeln muss sich an geringer Sichtweite ausrichten, ohne ein auch nur halbwegs begründbares Wissen auf der Basis wissenschaftlicher Sachverhalte zur Verfügung zu haben. Dennoch hat man aufgrund historischer Vorbilder sowie zunehmender Erfahrungen mit der Pandemie ein Praxiswissen, was durchaus wirksam zu sein scheint.

Kritiker werfen den politisch Verantwortlichen vor, mit den Verordnungen zu tief in Bürger- und Freiheitsrechte einzugreifen; extreme Kritiker leugnen die Pandemie (1). Dem aktuellen diffusen Protest-Aktionismus gegen die politischen Maßnahmen haftet der Makel an, bewusste, mit Gefahren verbundene Regelverletzungen im öffentlichen Leben und in der Wahrnehmung des Demonstrationsrechts zu begehen sowie beispielsweise auch als Mitläufer Tabubrüche salonfähig zu machen (Infektionsschutzgesetz als „Ermächtigungsgesetz“, Vergleiche mit von den Nationalsozialisten verfolgten Persönlichkeiten: Ist nicht jeder Maskenverweigerer ein bisschen Sophie Scholl?). Man kann sich fragen, ob es Teilen der Empörten und Demonstrierenden tatsächlich um die Sache geht, um Gesundheit und Freiheitsrechte im Zusammenhang humaner Lebensbedingungen in einem demokratischen Gemeinwesen, oder ob es sich nicht doch vielmehr um eine generell gegen unsere gesellschaftliche Ordnung, vielleicht gegen die parlamentarische Demokratie gerichtete diffuse Subkultur handelt, welche sehenden Auges mit sehr bedenklicher weltanschaulicher Couleur kollaboriert (beispielsweise das Projekt „Verfassungsgebende Versammlung“ – eine von Rechtsextremisten inszenierte „Volksbewegung“). (2)

Ich halte eine Verständigung im Diskurs der parlamentarischen Demokratie für existentiell. Es gibt keine Alternativlosigkeit in Bezug auf das Handeln der Regierung! Gerade deshalb sollte man, so mein Vorschlag, die abgebremste Lage für eine Art Moratorium in möglichst vielen persönlichen und gesellschaftlichen Räumen nutzen, um über die Dynamik des die Krise verursachenden Fortschritts sowie die Formen unseres Zusammenlebens im gesellschaftlichen Gemeinwesen reflektieren und diskutieren zu können. Eine zu klärende Frage wird dabei sein müssen, wo die Grenze zwischen berechtigtem kritischen Diskurs und verqueren Weltbildern verläuft, deren Deutungsattitüde aus guten Gründen zurückgewiesen werden sollte.

Unter diesen Vorzeichen halte ich es für weiterführend, die soziale Frage unter folgenden Gesichtspunkten neu zu diskutieren:

Im Sozialen: individuelle Selbstwirksamkeit, Souveränität, und gesellschaftliche Resonanz im Sinne eines Gemeinwohls in ihrer wechselseitigen Beziehung.

Im Anschauen und Erkennen der Welt: reale Erfahrung und denkender Realismus in Abgrenzung zu fiktionalen Narrativen von Weltdeutung.

Handlungsmaximen: Ethische Motive, welche ein Kompass des Handelns angesichts realen Leids sein könnten.

Ich möchte zunächst einige Gedanken aus unserer Geschichte heraus entwickeln, welche mir bedeutend genug erscheinen, vor deren Hintergrund unsere Gegenwart etwas genauer verstehen zu können, um mögliche zukünftige soziale Perspektiven aufzeigen.

Der Einzelne in der spätmodernen Unübersichtlichkeit

2013 veröffentlichte Frank Schirrmacher seinen Bestseller „Ego. Spiel des Lebens“. Er warnte vor einer ungezügelten Ökonomie, welche Freiheit und Demokratie unserer Gesellschaft bedrohe. Damals war die sogenannte Finanzkrise wenige Jahre alt, die Polarisierungen des kalten Krieges seit 20 Jahren Geschichte, die dunklen Schattenseiten einer weltweit dominierenden neoliberalen Ökonomie traten immer deutlicher zutage. Schirrmacher beschreibt als vorherrschendes Menschenbild der Moderne, der westlichen Zivilisation, den homo oeconomicus, einen radikalen Egoisten, dessen Verhalten zunehmend von Markt-, Wettbewerbs- und Wachstumsideologie getrieben sei: der Maximierung des Eigennutzes, dem kalkulierten Vorteil. Gesellschaftlichen Wandel beschreibt er als durch einen Ego-Kapitalismus manipulierten Prozess, welcher den Fortschritt ganz allgemein und besonders auch die Veränderung der sozialen Gegebenheiten in Gemeinschaften weltweit nach seinem Bilde forme.

Nun hat schon 2013 die zumindest latent verschwörungstheoretische Tendenz und Einseitigkeit in Schirrmachers Erzählung unserer historisch-gesellschaftlichen Lage – berechtigte – Kritik erfahren. Doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich auch heute vielfach ein Unbehagen artikuliert, welches einer global scheinbar alle Lebensbereiche beherrschenden Ökonomie kritisch begegnet. Die Welt der Moderne und Spätmoderne wird im Zusammenhang dieser Sichtweise als hyperkomplex und unübersichtlich beschrieben. Die Lebensbereiche erscheinen demnach in der Erfahrung des einzelnen Menschen als fragmentiert und ohne erkennbaren Sinn- und Handlungszusammenhang. Fortschritt wird als Beschleunigung erlebt, demgegenüber der einzelne Mensch den Anschluss verliert, weil ihm keine hinreichenden emotionalen und rationalen Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen. Diesem Verlust an Orientierung und Eingebundenheit korrespondiert im Kontext dieser Lesart spätmoderner Verhältnisse eine egoistische Selbstoptimierung. Die Gesellschaft subjektiviert das Individuum zu „hybrider Singularität” (Andreas Reckwitz). Der Einzelne nimmt systemrelevante Motivationen als persönlich-eigene wahr und handelt danach scheinbar selbstbestimmt, ist tatsächlich aber eine Marionette, welche die Ideologie des Systems als persönliche verinnerlicht hat. Eine Ausprägung dieser Haltung kann sein, dass die dominant stilisierte personale Singularität auch die zwischenmenschlichen, eigentlich human-empathischen Resonanzräume egozentrisch formt. Entsolidarisierung, schwindender Zusammenhalt sind die Folgen. Man kann – mit guten Gründen, es ließen sich eine ganze Reihe weiterer Wirkungsfaktoren moderner und spätmoderner Gesellschaft anführen – darüber streiten, ob mit der genannten Motivation die Triebfeder spätmoderner Gesellschaften hinreichend bestimmt sei; ich denke, es ist jedoch unbestritten, dass ein sehr prägnant wirkendes Motiv beschrieben ist.

Der Optimismus der Aufklärung auf dem Prüfstand

Ein Blick in die weitere Geschichte lehrt, dass die angedeutete Entwicklung ihre Ursprünge im Zeitalter der Aufklärung unter ganz anderen Vorzeichen hat. Der als sozial-gesellschaftliches Wesen, das einem Gemeinwohl verpflichtet ist, das einen wie auch immer gearteten Naturzustand durch eine kulturelle Entwicklung hinter sich gelassen hat (Gesellschaftsvertrag, Jean-Jacques Rousseau), der mögliche ökonomische Wohlstand der Nationen (Adam Smith) wurden in philosophischen Theoriekonzepten begründet und traten ihren historischen Siegeszug in der gesellschaftlichen Praxis an; sie formten die gesamte Moderne. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind die großen Ideale der französischen Revolution! Für die Aufklärung waren diese Ideen und Konzeptionen ein großes Versprechen auf die Zukunft. Sollten sich doch durch sie Gesellschaften aus ihren alten politisch-feudalen Zwängen emanzipieren. Der freie Bürger sollte sich eine soziale Eingebundenheit in demokratischen Gesellschaften organisieren, um als Individuum gemäß seinen Möglichkeiten ein selbstbestimmtes, gelingendes Leben entfalten zu können.

Was historisch betrachtet als Optimismus eines besseren Lebens begann, verkehrte sich jedoch zunehmend in sein Gegenteil und wird aktuell nun in der vorher angedeuteten Weise als scheinbar unaufhaltsame bedrohlich-zerstörerische Dynamik des wissenschaftlich- technischen und ökonomischen Fortschritts erlebt, welche sich zunehmend beschleunigt und dabei den einzelnen Menschen überwältigt – eine Dynamik, welche Natur und Umwelt sowie soziale und wirtschaftliche Verhältnisse überformt und beherrscht. Vergessen sind ursprüngliches Menschenbild und soziale Ideen. Diese sind in unserer Spätmoderne immer mehr ersetzt durch die oben genannten Konkurrenzstrukturen, welche Egoisten begünstigen, Gewinner und Verlierer produzieren, aber keine Individualität und Solidarität. Vielmehr formen sich zunehmend Egoismen, welche persönlich größtmögliche Ertragsziele ohne Rücksicht verfolgen.

Jörg Soetebeer

Erschienen in: Sozialimpulse

Nr. 1 / März 2021

Endnoten Teil 1:

(1) Eine öffentlich zugängliche internationale Statistik bietet https://www.worldometers.info/coronavirus.

(2) Vgl. dazu „Sozialimpulse“ Nr. 3/2020, S. 3f., online abrufbar unter: https://www.sozialimpulse.de/aus-gegebenem-anlass/

Literatur

Arendt, Hannah (2020): Freundschaft in finsteren Zeiten, Gedanken zu Lessing, hrsg. von Matthias Bormuth, Berlin, Matthes & Seitz.

Nussbaum, Martha (2019): Fähigkeiten schaffen. Neue Wege zur Verbesserung menschlicher Lebensqualität, Freiburg & München, Karl Alber.

Rosa, Hartmut (2020): Unverfügbarkeit, Wien & Salzburg, Residenz.

Soetebeer, Jörg (2020): Zwischen Resonanz und Autonomie – Überlegungen zu Souveränität aus anthropologischer Sicht im Anschluss an Ernst Cassirer, in: Edwin Hübner, Leonhard Weiss (Hrsg.): Resonanz und Lebensqualität. Weltbeziehungen in Zeiten der Digitalisierung. Pädagogische Perspektiven, Opladen, Berlin & Toronto, Barbara Budrich, S. 73-106.

Dr. Jörg Soetebeer, Schüler der Hiberniaschule in Wanne-Eickel. Studium der Germanistik und Philosophie an der Ruhruniversität Bochum. 19 Jahre Oberstufenlehrer an der FWS Eckernförde. Seit 2003 Dozent für bildungstheoretische und pädagogische Grundlagen der Waldorfpädagogik am Waldorflehrerseminar Kiel, Seminarleitung ab 2012; Veröffentlichungen zu Bildung, Philosophie, Germanistik und Pädagogik.