Rückzug des Staates aus dem Gesundheitswesen?

Einen interessanten Lösungsansatz verfolgen seit vielen Jahren einige Solidargemeinschaften wie „Artabana” oder „Samarita”. Statt des aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten Anspruchsprinzips – jeder hat in vergleichbaren Fällen das Recht auf gleiche Versicherungsleistungen – versucht man dort, mit dem sogenannten „Zuspruchsprinzip” zu arbeiten…

Im folgenden Aufsatz wird die Frage untersucht, inwiefern man von einem Rückzug des Staates im Gesundheitswesen sprechen kann und inwiefern sich dadurch Freiräume für die im medizinischen Bereich Tätigen ergeben haben könnten. Die Übersicht über die seit Jahrzehnten erfolgten Strukturreformen zeigt, dass von einem Rückzug des Staates nicht die Rede sein kann. Der staatlich verordnete Kostendruck und das dadurch ausgelöste Effizienzdenken rühren demnach nicht von einer neoliberalen Deregulierung her, sondern sind eher vergleichbar dem Effizienzdenken innerhalb eines Unternehmens, das seinen Abteilungen Sparsamkeit auferlegt. Im Rahmen dieser Entwicklung sind Freiräume im Laufe der Jahre eher eingeschränkt als ausgebaut worden.

Übersicht über Reformen der letzten Jahrzehnte

1. Phase: Ausbau der Gesundheitsversorgung (bis ca. 1976)

In der Nachkriegszeit kam es erst einmal zu einem Ausbau der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung. Medizinische Dienstleistungen waren für Kassenpatienten im Wesentlichen kostenlos. Eine expansive Ausgabenentwicklung war in den Jahren des Wirtschaftswunders kein Problem.

Der Ausbau der Versorgung war auch gekennzeichnet durch die Aufnahme immer neuer Medikamente und Heilverfahren in die Standardversorgung. 1976 kam es schließlich zu einer vorsichtigen Öffnung für komplementäre Heilmittel und -verfahren (Arzneimittelgesetz (AMG) 1976). In der Rückschau muss man dies allerdings als Abschluss der Ausbauphase einordnen.

2. Phase: Kostendämpfung (1977 bis 1991)

Nach der Erdölkrise 1973 und dem Wiederauftauchen von Arbeitslosigkeit in den Folgejahren kam es schließlich 1977 – noch unter der Schmidt-Regierung – zu ersten Kostendämpfungsmaßnahmen, die unter der Kohl-Regierung ab 1983 weitergeführt wurden:

1977: Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz (KVKG)

1981: Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz

1984: Krankenhaus-Neuordnungsgesetz (KHNG)

1986: Gesetz über die kassenärztliche Bedarfsplanung

1989: Gesundheits-Reformgesetz (GRG)

Als Grund wurde angegeben, dass die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen sich immer weiter öffnen würde. Dies kam eigentlich nicht überraschend, da die seit 1973 einsetzende Arbeitslosigkeit zu einem Einnahmerückgang in den Sozialversicherungen geführt hatte. Aber die Politik war (und ist bis heute) nicht bereit, die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme durch alle ArbeitnehmerInnen umzustellen auf ein System, in das alle BürgerInnen beitragen. Stattdessen wurde „im Interesse der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber” verfügt, dass der Versicherungsbeitrag nicht steigen darf. So blieb als einzig logische Konsequenz, eine „einnahmenorientierte Ausgabenpolitik” zu betreiben und die Ausgaben zu senken.

Die verfügten Maßnahmen sahen insbesondere vor:

  • Zuzahlungen zu bestimmten Medikamenten, Ausschluss von sog. „Bagatellarzneimitteln” und Kürzung des Zuschusses für Brillen, in einigen Bereichen kam es zur Privatisierung von Behandlungskosten
  • Einführung des Festbetragssystems für Arznei- und Hilfsmittel
  • Neugründung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung als Kontrollinstanz für die „bedarfsgerechte” Verwendung der Mittel der Krankenversichungen
  • Förderung der Prävention (Zahnprophylaxe), Gesundheitsförderung und Früherkennung mit dem Hintergedanken, dadurch Kosten zu sparen
  • Beschneidung von „anbieterinduzierten Ausgaben“, die dadurch zustande gekommen waren, dass die Anbieter (= die ÄrztInnen und die Heilmittelindustrie im Wesentlichen) die Preise für ihre Produkte und Dienstleistungen quasi selbst festlegten. Um dem gegenzusteuern, wurden eingeführt: die kassenärztliche Bedarfsplanung, eine Gebührenordnung, flexible Budgets und eine Großgeräteplanung, um Mehrfachanschaffungen zu vermeiden.

In diesem Zuge kam es zu einer vermehrten Übertragung von Steuerungskompetenzen an die Krankenkassen und die Verbände der Leistungsanbieter und zur Einrichtung der „Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen“ (KAiG, 1977). Beabsichtigt war die Stärkung der Kassen gegenüber den Leistungsanbietern (v.a. der Kassenärztlichen Vereinigung), wobei die mehr oder weniger stark ausgebaute Selbstverwaltungsstruktur und -kultur im Gesundheitswesen unangetastet blieb.

Im Ergebnis kam es also zu keiner Strukturreform im eigentlichen Sinne. Die Kostendämpfungsmaßnahmen waren nicht erfolglos, blieben aber dennoch in ihrer Wirkung begrenzt, weil die Anreize für die verschiedenen Akteure (Leistungserbringer, Kassen, Versicherte) im Kern unverändert blieben.

3. Phase: Strukturreformen (1992 bis 2016)

Nach dem Anschluss der DDR an die BRD waren Strukturreformen unausweichlich geworden, weil das Gesundheitssystem der DDR abgewickelt werden musste. Dies umfasste grob gesagt die Zerschlagung des staatlich organisierten und den Aufbau eines privaten Versorgungssystems aus ärztlichen Privatpraxen und privaten und kommunalen Krankenhäusern. Dies alles vor dem Hintergrund, dass mit der Implosion der Sowjetunion die neoliberale Ideologie („Der Markt kann alles besser”) deutlichen Aufschwung erhalten hatte. So kam es im Laufe der Jahrzehnte zu einer Reihe von Strukturreformgesetzen, die hier summarisch aufgeführt werden:

1992: Gesundheitsstrukturgesetz (GSG)

1996: Beitragsentlastungsgesetz

1997: 1. GKV-Neuordnungsgesetz (1. NOG)

1997: 2. GKV-Neuordnungsgesetz (2. NOG)

1998: Solidaritätsstärkungsgesetz

1999: GKV-Gesundheitsreformgesetz

2001: Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz (ABAG)

2002: Beitragssatzsicherungsgesetz

2002: Fallpauschalengesetz

2003: GKV-Modernisierungsgesetz (GMG)

2007: GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG)

2010: GKV-Finanzierungsgesetz (GKV-FinG)

2010: Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG)

2011: GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VstG)

  • Mit diesen sollten weitere Kostensenkungen erreicht werden, da die Defizite bei den Gesetzlichen Krankenversicherungen weiter stiegen. Die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Exportindustrie erlaubte es nicht, an der Einnahmenseite zu drehen.
  • Um mehr Geld ins System zu holen, versuchte man, den Gesundheitssektors für privatwirtschaftliche Investoren zu öffnen.
  • Einführung von freier Kassenwahl, Risikostrukturausgleich und Gesundheitsstrukturfonds, um eine Art von künstlichem Wettbewerb zwischen den Krankenkassen zu erzeugen
  • Einführung von Pauschalen bzw. Arznei- und Heilmittelbudgets, um Kosten nach oben zu begrenzen
  • weitere Privatisierung von Behandlungskosten sowie steigende Zuzahlungen bei Brillen und Zahnersatz
  • Ermöglichung von Einzelverträgen zwischen Kassen und Leistungserbringern
  • Einführung von Medizinischen Versorgungszentren in der ambulanten Versorgung, bei denen verschiedene Ärzte ihre Dienstleistungen unter einem Dach anbieten, was den PatientInnen Wege erspart. Allerdings sind die ÄrztIinnen als Angestellte des Versorgungszentrums den Direktiven der wirtschaftlich ausgerichteten Geschäftsführung unterworfen.
  • Aufbau der Telematik-Infrastruktur und Einführung der „Elektronischen Gesundheitskarte”
  • Positivliste für erstattungsfähige Arzneimittel; alles, was nicht auf dieser Liste steht, ist nicht erstattungsfähig

Krankenhausbereich

Im Ergebnis haben wir heute eine „trägerplurale” Krankenhauslandschaft: 36% privat, 35% frei-gemeinnützig, 28% kommunal. Die Zahl der Krankenhäuser sowie der Krankenhausbetten ist gesunken, die Liegezeiten sind verkürzt worden.

Dies muss nicht automatisch mit einer Verschlechterung der gesundheitlichen Versorgung einhergehen. In dieser Hinsicht ist die Situation komplex und bedarf einer eingehenden gesonderten Untersuchung. Das Herausdrängen von komplementären Heilmitteln- und verfahren kann allerdings als strukturelle Verschlechterung interpretiert werden.

Beklagt wird sehr oft das Fallpauschalensystem, wie z.B. zuletzt hier im Ärzteappell 2019, kurz vor der Coronapandemie. Das Problem am Fallpauschalensystem ist wahrscheinlich, dass die Pauschalen zu knapp bemessen sind. Dadurch entsteht der Ökonomisierungsdruck. Bei ausreichender Bemessung könnte das Fallpauschalensystem theoretisch zu einer Entbürokratisierung und zu mehr Therapiefreiheit führen, wenn das System so gestaltet wäre, dass die Wahl der Therapie wirklich frei wäre. In der Praxis stehen dem allerdings medizinische Behandlungsempfehlungen entgegen, von denen abzuweichen gerade in Krankenhäusern nicht so einfach ist. Diese Fragestellung müsste noch gesondert untersucht werden, um insbesondere die Erfahrungen von Ärztinnen und Ärzten in Krankenhäusern mit komplementärmedizinischem Angebot einbeziehen zu können.

Konkurrenz zwischen Krankenkassen

Eine wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den Gesetzlichen Krankenkassen ist nicht wirklich in Gang gekommen. Zu eng sind die Reglementierungen, die ihnen kaum eine Angebotsdifferenzierung erlauben.

Immer wieder ist im Gespräch, die Kosten dadurch zu senken, dass man die Zahl der Krankenkassen deutlich reduziert. Hatten wir 1970 noch 1815 Gesetzliche Krankenkassen, waren ihre Zahl 1990 schon auf 1147 gesunken. Heute (2021) haben wir noch 103 Gesetzliche Krankenkassen. Die Idee dahinter ist, die Verwaltungskosten im Gesundheitssystem zu senken. Auch die Idee einer Bürgerversicherung steht immer im Verdacht, eine Rationalisierungsmaßnahme und ein Einfallstor für Konzerninteressen zu sein (vgl. Dietrich 2017).

Theoretisch könnten Freiräume entstehen, wenn den Krankenkassen eine größere Diversifizierung ihrer Leistungsprofile erlaubt würde. Diese Möglichkeit ist aber bis jetzt nicht wirklich genutzt worden. Zu stark scheinen die Vorbehalte in der Politik, der Gesundheitsverwaltung und in den ärztlichen Ständeorganisationen zu sein.

Freiräume lassen sich natürlich immer außerhalb des staatllich verwalteten Gesundheitssystems gestalten, dann aber ohne den Solidarausgleich. Eine gute komplementärmedizinische Versorgung ist tendenziell eher für Besserverdienende erreichbar, indem sie hierfür die nicht gerade billigen privaten Zusatzkrankenversicherungen nutzen. Medizinischer Pluralismus und Komplementärmedizin findet zunehmend außerhalb des staatlich verantworteten Gesundheitssystems statt. Die ideologisch motivierten Versuche, homöopathische Heilbehandlungen zukünftig komplett aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen zu streichen, deuten darauf hin, dass die Therapiefreiheit im staatlichen Gesundheitssystem alles andere als gesichert ist.

Niedergelassene Ärzteschaft

Die niedergelassene Ärzteschaft, vor allem im Bereich Allgemeinmedizin, klagen über einen starken Kostendruck durch Unterfinanzierung und durch immer weiter zunehmende nicht-medizinische Anforderungen wie Dokumentationssysteme, Qualitätssicherungsnachweise, Abrechnungsbürokratie und Digitalisierung. „Diese Politik demotiviert freiberufliche Ärzte, bedroht wohnortnahe Praxen und ebnet kommerzialisierter Konzernmedizin den Weg”, kommentierte Dr. Wieland Dietrich von der Freien Ärzteschaft kürzlich (Wieland 2021). Das Ergebnis ist, dass junge Ärztinnen und Ärzte eine eigene Praxis oftmals gar nicht mehr anstreben, während die Landärzteschaft mangels engagierter und risikobereiter Nachfolger:innen sich immer mehr ausdünnt.

Die Situation der Beschäftigen

Die Situation für die Beschäftigten im Gesundheitswesen hat sich seit den 1990er Jahren definitiv verschlechtert. Es gab in vielen Bereichen einen Arbeitsplatzabbau, durch Outsourcing sind sie in schlechtere Arbeitsverträge gedrängt worden und die verbliebenen Arbeitsplätze werden schlechter bezahlt bzw. sind von der allgemeinen Lohnentwicklung abgehängt worden. Die Coronakrise hat dies glücklicherweise wieder stärker ins allgemeine öffentliche Bewußtsein zurückgeholt.

4. Phase: Digitalisierung (ab 2017)

Insbesondere seit dem Amtsantritt von Jens Spahn (CDU) kam ein neuer Ton in die etwas festgefahrene Reformdebatte. Er ist überzeugter Anhänger einer starken Digitalisierung im Gesundheitswesen. Das „Smartphone als täglicher Gesundheitsbegleiter” sowie die Telemedizin sind für ihn die Paradigmata der „medizinischen Versorgung von morgen” (Spahn et. alt. 2016).

Telematik-Infrastruktur

In der Vergangenheit ist er schon öfter durch eine besondere Nähe zu Lobbyisten der Pharmaindustrie aufgefallen. So nimmt es nicht Wunder, dass er sich in den vergangenen Jahren für den schnellen Ausbau der Telematik-Infrastruktur eingesetzt hat, denn die Voraussetzung für eine durchgreifende Digitalisierung im Gesundheitsbereich ist die zentrale Datenspeicherung. Nur so lässt sich die Menge an Daten mobilisieren, die die Digitalökonomie benötigt.

Aushöhlung des Datenschutzes

Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz 2019 wurden darüberhinaus die rechtlichen Grundlagen für eine zentrale Medizinische Forschungsdatenbank geschaffen, in der nicht nur die GKV-Abrechnungsdaten, sondern pseudonymisierte Medizindaten einzelner Patientinnen und Patienten aus vielen Bereichen zentral gespeichert werden sollen. Als Datenquellen sind bisher vorgesehen: das Implantatregister und die derzeit in der Einführung stehende elektronische Patientenakte. Weitere Datenquellen sind im Gespräch.

Dass Gesundheitsdaten für Forschungszwecke zur Verfügung stehen, ist an sich ein richtiger Gedanke. Die entscheidende Frage ist, wer auf diese Daten zugreifen und wer daraus den Nutzen ziehen darf. Wenn sie unabhängigen Medizinforschenden zur Verfügung gestellt werden, ist dies kein Problem, aber es sollen sowohl verschiedene Verbandsakteure im Gesundheitsbereich als auch das Bundesgesundheitsministerium, also Wirtschaft und Politik, um es auf den Punkt zu bringen, darauf zugreifen können. Initiiert von Jens Spahn hat hier der Gesetzgeber den Datenschutz, der gerade bei medizinischen Daten besonders streng sein sollte, auf den zweiten Platz verwiesen, wie Dr. Thilo Weichert in einer Videoveranstaltung erläuterte (Weichert 2021).

Die Medizin der Zukunft: „App vom Arzt”

Als Ziel wird eine Medizin propagiert, die über Smartphone-Apps, Big Data-Analysen, Künstliche Intelligenz, digitale Plattformen und Telemedizin eine standardisierte Gesundheitsversorgung für die Masse der Bevölkerung kostengünstig bereitstellen soll.

Flankiert werden diese Planungen durch den neuen Forschungszweig der Systembiologie (Vgl. Spork 2021). Sie strebt an, auf einer digital und KI-gestützten Basis individualisierte Heilmittel und Therapieformen zu entwickeln. Es ist klar erkennbar, dass auf diesem Feld vor allem die Pharmagroßindustrie und die digitalen Plattformunternehmen sich eine Wettbewerbsschlacht um die profitabelsten Dienstleistungen liefern werden. Diese Entwicklungen engmaschig zu beobachten und zu analysieren, wird in Zukunft dringend notwendig sein.

Sozialstaatsprinzip und Verteilungsgerechtigkeit

Ähnlich wie der Hochschulbereich ist das Gesundheitssystem zwar formal selbstverwaltet. Aber starke staatliche Leitplanken setzen den einzelnen Akteuren relativ enge Grenzen. Dies gehört von Beginn an zur DNA der Bundesrepublik:

„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ (GG Art. 20 Abs. 1)

„Der Schutz der Bevölkerung vor dem Risiko der Erkrankung ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Kernaufgabe des Staates.“ (BVerfGE 123, 186 (242))

Das Gesundheitssystem ist in diesem Sinne eine gesundheitssichernde Infrastruktur, zu der jedeR BürgerIn gleichberechtigten Zugang haben muss. Daher die Reglementierungen auf der Preisseite, um einseitige Preistreibereien zu unterbinden. Aber auch die Reglementierung der Leistungen leitet sich daraus ab, denn jedeR NutzerIn des Gesundheitssystems hat Anspruch auf die exakt gleichen, möglichst standardisierten Leistungen.

Im Rahmen dieser verwaltungstechnischen und rein an Verteilungsfragen orientierten Denkweise ist wenig Platz für Individualisierung. Letztere wird weniger als Möglichkeit, geschweige denn als Notwendigkeit, sondern eher als Gefährdung für eine gute und vor allem sozial gerechte medizinische Versorgung erlebt.

Die paternalistische Seite des Sozialstaatsprinzips

Die Steuerung des gesundheitlich relevanten Verhaltens der BürgerInnen erfolgt dabei immer weniger durch direkte Verbote, sondern durch Gebühren und bürokratische Hürden. Wer eine bestimmte Behandlung oder ein bestimmtes Heilmittel möchte oder eben nicht möchte, muss in Kauf nehmen, dass er oder sie mehr zahlen, zusätzliche Nachweise erbringen oder Verzichtserklärungen beibringen muss usw. Die Entscheidung verbleibt beim Einzelnen, aber die Rahmenbedingungen werden so gesetzt, dass am Ende das dabei herauskommt, was die Gesundheitsverwaltung vorgegeben hat. Selbst- und Fremdsteuerung werden sich also immer ähnlicher. Der Einzelne soll aus eigenem Antrieb das wollen, was die Gesundheitsverwaltung vorgegeben hat.

Diese Denkweise führt gegenwärtig zur Installation von „2G”-Maßnahmen zur Coronabekämpfung: Eine Impfpflicht wird nicht eingeführt, aber die Bedingungen werden so gestaltet, dass das Leben ohne Impfung immer komplizierter wird.

Umgang mit Lebensrisiken

Neben der oben schon angedeuteten Problemzone im Bereich Therapiefreiheit ist hier ein Problemkreis angesprochen, der über den kleinen Kreis der an Komplementärmedizin Interessierten hinausgeht. Inwieweit soll die Gesundheitsverwaltung, oder allgemeiner: der Staat, den Einzelnen vor Lebensrisiken schützen? Wird dieser Gewinn an Sicherheit erkauft durch eine Abnahme der Anpassungsfähigkeit an ungewohnte Herausforderungen? In der Psychologie ist bekannt, dass eine solche Konstellation nach einiger Zeit zur Zunahme eines Gefühls von Lebensunsicherheit führt. Zu was würde es in einer ganzen Gesellschaft führen?

Muss ein freiheitliches Gemeinwesen seinen BürgerInnen nicht auch die Auseinandersetzung mit gewissen Lebensrisiken zumuten dürfen, weil sonst der freiheitliche Charakter des Gemeinwesens massiv gefährdet ist? Schließlich werden ja die Risikowahrnehmungen und -bewertungen immer persönlicher. Was dem einen zu riskant erscheint, findet die andere völlig normal. Eine Normierung durch die Gemeinschaft führt hier ab einem gewissen Punkt in einen Vorsorgestaat, der die Entscheidungsspielräume der Einzelnen „zum Wohle aller” einengt. Hierzu fehlt schon länger eine beherzte Debatte in der Gesellschaft.

Prinzipien einer echten Reform

Gerhard Kienle schrieb 1976 in der Präambel des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke:

„Hilfeleistung ist nicht bezahlbar, aber wirtschaftlich ermöglichbar. Die Hybris staatlicher Verwaltung, mit administrativen Steuerungsmaßnahmen die Gesundheit der Bevölkerung sicherstellen zu wollen, indem ärztliche Tätigkeit als Rohmaterial in eine Gesundheitsfabrikationsmaschine gezwungen wird, kann nur Leid und Elend der Kranken erzeugen. Es gibt keine technische Bewältigung der Kostenexplosion oder Unwirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens durch administrative Kostendämpfungsmaßnahmen. Ohne Preisgabe des Machtanspruches über den menschlichen Geist können soziale Fragen nicht gelöst werden. Der Arzt sollte nach Maßgabe des Vertrauens der assoziativ gegliederten Bevölkerung wirtschaftlich angemessen freigestellt werden, wahrhaft ärztlich tätig zu sein.“

Man muss zugeben, dass seitdem wenig passiert ist, was dem Gesundheitssystem aus dem Unwirtschaftlichkeitsdruck herausgeholfen hätte. Ich habe lediglich Kenntnis von den Schriften Rainer Burkhardts, in denen er sich Anfang der 2000er Jahre mit Unterstützung von Prof. Dr. med. Peter Matthiessen für eine Neuorientierung im Sinne einer „Pluralität in der Medizin” eingesetzt hat (vgl. Burkhardt 2001 und Burkhardt 2005).

Zuspruchsprinzip statt Anspruchsprinzip

Einen interessanten Lösungsansatz verfolgen seit vielen Jahren einige Solidargemeinschaften wie „Artabana” oder „Samarita”. Statt des aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten Anspruchsprinzips – jeder hat in vergleichbaren Fällen das Recht auf gleiche Versicherungsleistungen – versucht man dort, mit dem sogenannten „Zuspruchsprinzip” zu arbeiten: „Wir geben uns Zuwendungen, statt Ansprüche zu erheben”. Dem Gesundheitssystem gegenüber treten die Mitglieder der Solidargemeinschaften als Privatpatienten auf, haben sich aber im Rahmen der Gemeinschaft auf einen solidarischen Ausgleich untereinander geeinigt und sich gegenseitig die volle Therapiefreiheit zugesichert. Zuwendungen sollen sich dabei am realen Bedarf ausrichten und nicht an Pauschalen oder Gebührenziffern (vgl. Samarita Solidargemeinschaft). Sie könnten aber theoretisch auch, in extremen Fällen von Missbrauch der Zuwendungsleistungen, verweigert oder begrenzt werden, wie Urban Vogel, der Vorstandssprecher der Samarita, auf einer Informationsveranstaltung bekundete.

Voraussetzung für die Teilnahme an dieser Art von solidarischem Ausgleich ist eine große Bereitschaft, sich für die Gemeinschaft zu engagieren einerseits und die eigenen Versorgungsbedürfnisse in einer Gruppe offenzulegen andererseits. Nicht viele Menschen werden hierzu bereit sein, aber die Idee, dass sich die Gesundheitsinfrastruktur auf regionaler oder gar lokaler Ebene der Mitsprache und des Einflusses der Betroffenen stärker öffnen muss, ist mit Sicherheit zukunftsweisend.

Bürgergutachten zum Gesundheitssystem

Genau diesen Ansatz verfolgt seit kurzem der anthroposophische PatientInnenverband gesundheit aktiv mit seiner Initiative zu einem Bürgergutachten über das Gesundheitssystem. Eine zufällig ausgewählte Anzahl von Menschen soll Vorschläge zur Weiterentwicklung des Gesundheitssystems erarbeiten. Schirmherr dieser Initiative ist Franz Müntefering (vgl. gesundheit aktiv, 2021)

Stefan Padberg

Erschienen in: Sozialimpulse 2021, Heft 3, S. 46-50

Literaturverzeichnis

  • Ärzteappell (2019), Mensch vor Profit: Ökonomisierung an deutschen Krankenhäusern abschaffen!, https://www.stern.de/gesundheit/aerzte-appell/, abgerufen 17.09.2021
  • Burkhardt, Rainer (2001), Neuorientierung des Gesundheitswesens. Skizze eines assoziativen Konzepts, Verlag für Akademische Schriften Frankfurt a.M.
  • Burkhardt, Rainer (2005), Neuorientierung des Gesundheitswesens II. Konkretisierungen, Verlag für Akademische Schriften Frankfurt a.M.
  • Dietrich, Wieland (2017), „Die SPD sollte sich endlich mit der Realität auseinandersetzen“, Interview 10.12.2017, https://freie-aerzteschaft.de/fae-chef-zur-buergerversicherung/, abgerufen am 17.09.2021
  • Dietrich, Wieland (2021), „Diese Politik demotiviert freiberufliche Ärzte“. Interview 27. August 2021. https://freie-aerzteschaft.de/interview-7/, abgerufen am 17.09.2021
  • gesundheit aktiv (2021), Eingemischt. Das erste Bürgergutachten Gesundheit zeigt der Politik, wie sich unser Gesundheitssystem verändern muss. https://www.gesundheit-aktiv.de/politik/buergergutachten, abgerufen 17.9.2021
  • Herrmannsdorfer, Udo (2003), Wege zur Mitverantwortung im Gesundheitswesen, Rundbrief Dreigliederung 2/2003, S. 18-22, https://www.sozialimpulse.de/fileadmin/user_upload/pdf/RB/2003_Rundbrief_2.pdf
  • Kienle, Gerhard (1976), Präambel des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke. In: Peter Selg (Hrsg.): Die Würde des Menschen und die Humanisierung der Medizin – Aufsätze und Vorträge von Gerhard Kienle. Verlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim 2009, S. 5
  • Samarita Solidargemeinschaft, Die 7 Prinzipien, https://www.samarita.de/absicherung/die-7-prinzipien/, und Die Leistungen, https://www.samarita.de/im-krankheitsfall/die-leistungen/, abgerufen am 17.9.2021
  • Spahn, Müschenich und Debatin (2016): App vom Arzt. Bessere Gesundheit durch Digitalisierung. Herder Freiburg i. Brsg.
  • Spork, Peter (2021): Die Vermessung des Lebens. DVA München
  • Strawe, Christoph (2006), Welche Therapie hilft dem Gesundheitswesen? Sozialimpulse 1/2006, S. 8-12, https://www.sozialimpulse.de/fileadmin/user_upload/pdf/RB/Artikel/2006-1_Christoph-Strawe_Welche-Therapie-hilft-dem-Gesundheitswesenp.pdf
  • Weichert, Thilo (2021): Das medizinische Forschungsdatenzentrum. Online-Veranstaltung des Netzwerk Datenschutzexpertise. https://tube.tchncs.de/w/7c3Aa6j2KWBj9u6jiVGpdx. Abgerufen am 17.09.2021