Perspektiven der Anthroposophischen Medizin

Im Jahr 2020 feierte die Anthroposophische Medizin hundertjähriges Bestehen. Seit den ersten Fallbesprechungen mit Dr. Ita Wegmann, Rudolf Steiner und anderen ärztlichen Kollegen und Kolleginnen in der Entstehungszeit der Anthroposophischen Medizin ist ein breites Medizinangebot entstanden. In Deutschland sind mit dem Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke (1969), der Filderklinik (1975) und dem Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe (1995) drei Akutkrankenhäuser seit Jahrzehnten erfolgreich in der Grund- und Regelversorgung aktiv. Ein breites Fächerangebot wird mit dem Konzept der Anthroposophischen Medizin verbunden und das im Kontext der gesetzlichen Rahmenbedingungen der Gesundheitsfürsorge unserer Gesellschaft. Darüber hinaus sind zahlreiche weitere Spezialkliniken, rehabilitative Träger und eine große Bewegung in der ambulanten Medizin entstanden. Die sogenannten Zusatztherapien – Therapieformen, welche sich originär aus der Anthroposophischen Medizin entwickelt haben – tragen zusammen mit den Anwendungen der Pflegeberufe entscheidend zu dem patientenzentrierten und individualisierten Behandlungskonzept der Anthroposophischen Medizin bei.

Anthroposophische Medizin geht immer – entgegen manch anderer Vorstellungen – von naturwissenschaftlich basierter, hoch qualifizierter Medizin aus, integriert diese, beherrscht und erwartet diese. Zugleich kann Anthroposophische Medizin als gutes Beispiel einer Integrativen Medizin angesehen werden, welche sich nun seit Dekaden entwickelt und in der Praxis bewahrt hat. So erfreuen sich die Anthroposophischen Kliniken seit jeher eines großen, überregionalen Zuspruchs durch Patientinnen und Patienten, was sich regelmäßig in sehr guten Platzierungen bei Patientenbefragungen niederschlagt.

Die Anthroposophische Medizin ist wissenschaftlich, fachlich kompetent, empathisch und innovativ. Dies gelingt gerade auch im stationären Krankenhaussektor nicht zuletzt, weil moderne Managementansätze mit Beteiligung, Kollegialität und agilen Arbeitsformen entwickelt wurden und von einem Vertrauen in den sinnstiftenden Gestaltungswillen aller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ausgegangen wird.

In den letzten 30 Jahren ist die Institutionalisierung und Internationalisierung der Anthroposophischen Medizin beeindruckend gelungen. In der Gesellschaft Anthroposophischer Ärztinnen und Ärzte in Deutschland (GAAD) sind über 1.300 Allgemein- und Fachärzte und -ärztinnen vertreten. Für die Anthroposophische Medizin sind als übergeordnete Organisationen der Dachverband Anthroposophische Medizin in Deutschland (DAMiD), die Internationale Vereinigung Anthroposophischer Ärztegesellschaften (IVAA) und die Medizinische Sektion in Dornach/Schweiz aktiv. Ebenso sind zahlreiche Ausbildungsangebote entstanden, so die berufsbegleitenden Ausbildungsangebote in Herdecke und Havelhöhe oder das Ärzteseminar in Filderstadt. Durch die begonnene Akademisierung der Anthroposophischen Medizin können ihre wissenschaftlichen Grundlagen und praktischen Anwendungen zunehmend erfolgreich evaluiert werden.

Was erwartet uns in Zukunft? Die Ökonomisierung der Medizin wird weiter Druck auf die Strukturen im Gesundheitswesen ausüben, die Digitalisierung wird Arbeitsabläufe verändern und weiter technisieren. Dieser Entwicklung werden wir uns stellen, da wir überzeugt sind, dass die Anthroposophische Medizin eine Stimme in der Versorgungs- und Kliniklandschaft sein muss.

Wo aber bleiben neben aller fachlichen Kompetenz oder Effektivität von Abläufen die Fragen nach der Zuwendung, der Beziehung oder dem Sinn? Was ist der Heilbedarf des Menschen in Zukunft? Welche Bedürfnisse haben wir als Gesellschaft an gesundheitsfördernden Angeboten? Eine individualisierte und beziehungsgetragene Medizin beansprucht Zeit. Zeit für Begegnung und Gespräch, für Vertrauen und Wachstumsprozesse körperlicher und seelischer Art. Die Anthroposophische Medizin will neben der selbstverständlichen Anwendung auch künftiger diagnostisch-therapeutischer Innovationen ein Vorreiter für die Kernelemente einer heilsamen, therapeutischen Medizin sein, die den Gesetzmäßigkeiten von Leib, Seele und Geist Raum gibt. Hier kann sie sich zukünftig mit ihren Erfahrungen und Kompetenzen in den öffentlichen Diskurs zur Entwicklung der Medizin einbringen.

Um dies leisten zu können, müssen die ambulant-stationäre Vernetzung (auch des sogenannten Dritten Sektors) und die Zusammenarbeit zwischen stationärer und ambulant-medizinischer Versorgung weiter ausgebaut werden. Auch die Ausbildung von Fachärzten und -ärztinnen und das Angebot an Weiterbildungsqualifikationen müssen intensiviert werden. Und schließlich muss die nationale und internationale Zusammenarbeit von Vertretern und Vertreterinnen der Integrativen Medizin weiter gestärkt werden. Einen wesentlichen Beitrag konnte in Zukunft die Anthroposophische Pflege leisten, in welcher Pflege als therapeutischer Ansatz teamorientiert weiterentwickelt wird, sodass wieder aus dem Selbstverständnis dieses Berufes heraus innere Zufriedenheit erlebt werden kann. Auch die aus der Anthroposophischen Medizin heraus entwickelten Therapieformen Kunsttherapie, Eurythmietherapie, Physiotherapie, Massagen oder Bäderanwendungen bis hin zur Metallfarblichttherapie können ihre Ausbildungscurricula akademisieren und somit zur nachhaltigen Unterstützung und Weiterentwicklung der Anthroposophischen Medizin beitragen.

Die Anthroposophische Medizin stellt sich auch zukünftig den wissenschaftlichen Herausforderungen – und das unerschrocken. Die bisherigen Ergebnisse von Studien und systematischen Untersuchungen zur Anthroposophischen Medizin sind vielversprechend. Ob zum Thema Verbesserung der Lebensqualität, der Anwendung von multimodalen Therapiekonzepten, zu Endpunkten, zur Verringerung von Nebenwirkungen der konventionellen Krebstherapie oder zu Hinweisen auf die Verbesserung des Gesamtüberlebens durch Misteltherapie – fast überall zeigt die Forschung der Anthroposophischen Medizin positive Ergebnisse. Die Anstrengungen müssen weitergehen und ausgebaut werden: Erstattungsfragen, die Mitgestaltung von Leitlinien aus Ansätzen der Anthroposophischen Medizin und die Erhöhung der Attraktivität für klinischen und wissenschaftlichen Nachwuchs stehen an.

Nach wie vor sind zahlreiche Konzeptvorschläge von Rudolf Steiner wenig beachtet oder auch noch nicht ausreichend verstanden. Die Konzeptualisierung der anthroposophischen Menschenkunde bleibt deshalb eine wichtige Aufgabe für die Zukunft. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass sich die Anthroposophische Medizin voll in die Verantwortung gesellschaftlicher Herausforderungen stellt. Die intensive Behandlung von Coviderkrankten auf unseren Infektions- und Intensivstationen, die Etablierung von Infektambulanzen, Coronaambulanzen und breite Impfangebote waren beispielgebend. Mit dem Ziel Climate friendly Hospital ist das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhohe seit zwei Jahren auf dem Weg, sich den Herausforderungen eines CO2-neutralen Wirtschaftens im Gesundheitswesen zu stellen. Dabei fühlen wir uns dem sich aktuell weltweit entwickelnden One-Health-Ansatz verpflichtet: Die Gesundheitsforderung jedes einzelnen Patienten und jeder Patientin ist Ausdruck und Aufforderung zugleich, künftig im Einklang und in Resonanz von Mensch, Natur und Mitwelt mit ihren jeweiligen Ressourcen verantwortlich und heilsam umzugehen.

Friedemann Schad und Harald Matthes