Jan

Wohngruppe ‹Dag Hammarskjöld› in der sozialtherapeutischen Einrichtung ‹Laufenmühle›. Abdu, der verantwortliche Pfleger, setzt sich Jan gegenüber, um ihm die Fingernägel zu schneiden.

Seit Stunden hockt dieser regungslos in seinem Rollstuhl und gibt tiefe knatternde Laute von sich. Abdu spricht sein stummes Gegenüber an und greift nach dessen Hand. Jan zieht sie zurück. Da setzt Abdu  –  jetzt behutsamer  –  nach. Was in der Sprache unmöglich ist, geschieht hier tastend, greifend: ein stiller Dialog von Bitten und Fordern, von Rückzug und Gestatten. Abdus Augen wandern von Jans Finger zu dessen Augen und von den Augen wieder zurück. Ein paarmal weicht die Hand und ein paarmal ergreift sie der Profi in Sachen geheime Kommunikation von Neuem. Hätten wir all diese Geduld, diese Ausdauer für den anderen, der oder die sich scheu zurückzieht. Was wäre dann? Am Mittag ist es an mir, Jan das Essen zu reichen, Löffel für Löffel. Gerade beim Salat keine leichte Sache. Stoisch und ohne Regung spielt der kräftige Mann mit. Dann auf einmal hebt sich seine Hand und legt sich auf meinen Arm. Aus dem scheinbaren Unvermögen mit einem Mal diese Zärtlichkeit, aus der Gefangenschaft, welch eine Befreiung! Und er ist präzise, dieser Überfall an Menschlichkeit, denn Jan legt nicht das Gewicht seines Armes in seine Hand, es bleibt ein Tasten, und auch die Dauer ist bemessen, es ist nur für einen Atemzug und wiederholt sich dann musikalisch. Wieder die Frage, wie wäre es, wenn auch wir aus dem Unvermögen so mutig in die zärtliche Begegnung zum Fremden  –  denn das war ich ja für Jan  –  springen könnten und es tun würden  –  wie Jan.

Wolfgang Held

Erschienen in: Das Goetheanum –

Wochenschrift für Anthroposophie

Nr. 36, 9. Sept. 2022