Welche Beziehung gibt es zwischen der biodynamischen Landwirtschaft und dem Naturverständnis indigener Völker? Was lässt sich hier lernen? Jean-Michel Florin, Co-Leiter der Sektion für Landwirtschaft am Goetheanum, teilt seine Gedanken.
Vor einigen Jahren hatte ich eine Begegnung mit Luzmila Carpio, einer berühmten Sängerin aus dem Volk der Quechua von Bolivien. Sie war eine Zeit lang unter der Regierung von Evo Morales UNESCO-Botschafterin von Bolivien. Ein Bekannter empfahl meiner Frau eine Schallplatte von ihr. (1) Die Musik hatte uns sehr berührt. Einige Wochen später war ich auf einem biodynamisch arbeitenden Hof in Südfrankreich eingeladen. Am Abend fuhr ich noch zu einem Ökofestival und wurde von meinen Gastgebern gebeten, ihre Freundin aus Bolivien mitzunehmen. Beim Fahren tauschten wir uns aus, und plötzlich bemerkte ich: Neben mir sitzt die Frau, deren Stimme mich so beeindruckt hat. So macht man Bekanntschaft! Später erzählte sie uns, dass ihre Mutter beim Hören der Vogelgesänge wusste, dass am Abend ein Gast kommen würde: ein selbstverständliches Leben mit dem ‹Unsichtbaren›. Wir stellten weitere Gemeinsamkeiten zwischen dem biodynamischen Ansatz und der Tradition der Quechua fest, angefangen bei der Tatsache, dass beide die Erde als lebendiges Wesen sehen.
Wir fragten uns, welche Art Beziehung wir zwischen einer in Europa geborenen biodynamischen Landwirtschaft und der kosmologischen Tradition der Quechua herstellen könnten. Jede Strömung könnte die andere brauchen. Luzmila erzählte, dass die jungen Menschen ihre Traditionen nicht mehr pflegen, sich nach Modernität sehnen und dabei alle spirituellen Grundlagen wegwerfen. Die Begegnung mit Menschen, die in Europa auf ‹moderne Art› eine spirituelle Landwirtschaft betreiben, könnte junge Menschen anregen, ihre Tradition ernst zu nehmen. Und wir als biodynamische Europäer und Europäerinnen können durch die Tradition und wachsende Anerkennung der indigenen Völker mehr Legitimität für unsere Suche nach einem geistigen Ansatz in der Landwirtschaft bekommen. Auch bei anderen Gelegenheiten hatte ich bemerkt, dass sich in vielen Ländern der Welt, wie zum Beispiel in Indien, Togo oder Argentinien, Landwirte und Bäuerinnen, die eng mit der Erde verbunden sind, nach einer Anknüpfung an ihre Tradition und nach einer Spiritualisierung ihrer Arbeit sehnen. Wie können wir voneinander lernen? Aus diesem Grund hatten wir für die Landwirtschaftliche Tagung 2020 ‹Wege zum Geistigen in der Landwirtschaft› (2) Vertreterinnen und Vertreter indigener Völker aus aller Welt eingeladen.
Wer sind die indigenen Völker?
Im Strom der Dekolonialisierungs- und Emanzipationsbewegungen behaupten sich indigene Völker und suchen nach Anerkennung. Sie wollen nicht nur geduldet oder als interessante Forschungsthemen für die Ethnologie angesehen, sondern wirklich ernst genommen werden. Dafür nehmen ihre Vertreterinnen und Vertreter aktiv an allen größeren Zusammenkünften teil, wie kürzlich an dem Naturkongress in Marseille (UICN). (3) Oder an der Klimakonferenz COP 26 in Glasgow, wo Diaz Mirabal (Mitglied des Stammes der Wakuenai Kurripaco) die indigenen Völker von Brasilien, Bolivien, Peru, Ecuador, Kolumbien, Venezuela, Guyana, Surinam und Französisch-Guayana vertrat und auf der Pressekonferenz sagte: «Wir sind auf der COP 26, um unseren Vorschlag ratifizieren zu lassen, damit 80 Prozent des Amazonas am Leben bleiben. Wir sind der Amazonas für das Leben, wir sind der Schrei der Luft, des Wassers, der Kreaturen des Waldes, wir sind hier, um Antworten und Maßnahmen von den Staaten zu erhalten». (4)
Sie entsprechen ungefähr 6,2 Prozent der Weltbevölkerung und pflegen 80 Prozent der Biodiversität auf der Erde. Sie bewohnen 25 Prozent der globalen Landfläche. Viele landwirtschaftliche Praktiken auf der Erde haben ihren Ursprung in der indigenen Landwirtschaft. Inzwischen ist bewiesen, dass sie seit mehr als 10 000 Jahren fast die ganze Erde kultiviert haben (5), entgegen der allgemeinen kolonialistisch geprägten Meinung, indigene Völker wie die Aborigines seien beim Stadium des Jagens und Sammelns stehen geblieben. Sie taten es auf ganz verschiedene Weisen. Manchmal so schonend wie im Amazonaswald, wo Forschende erst kürzlich entdeckten, dass der sogenannte unberührte Urwald mit der größten Biodiversität ein kultivierter Wald ist.
Die Forscherin Julia Wright von der Universität von Coventry (6) hatte während der letzten Forschungstagung der Landwirtschaftlichen Sektion am Goetheanum weitere Zusammenhänge zwischen Biodynamik und indigenen Traditionen dargestellt: In einer gemeinsamen Aktion (7) riefen 16 Vertreterinnen und Vertreter indigener Völker die Bewegungen der ökologischen Landwirtschaft auf, diese Praktiken nicht einfach aus dem Zusammenhang zu reißen, sondern vielmehr die Weltanschauungen zu vertiefen, aus denen sie stammen, welche die Lebewesen respektieren. Weiter erklärten sie, dass nur eine veränderte Sichtweise zu jenem radikalen Gesinnungswandel führen kann, den unsere Zeit so dringend braucht. Diese 16 Vertreterinnen und Vertreter stellten in ihrem Aufruf philosophische Konzepte vor, die quer zu ihren verschiedenen Kosmogonien liegen. Eine bemerkenswerte Leistung! Die wesentlichen Aspekte des indigenen Appells lassen sich in folgenden sechs Punkten zusammenfassen:
- Bejahung der Einheit von Mensch und Natur gegenüber der modernen Sichtweise der Dualität von Mensch und Natur.
- Bekräftigung, dass alles lebendig ist, anstatt zwischen toten und lebendigen Elementen zu trennen.
- Bekräftigung der ständigen Suche nach dem Gleichgewicht, anstatt die Welt mit dem Dualismus von Gut und Böse zu erklären.
- Bekräftigung der Notwendigkeit der Sprachenvielfalt, um angesichts der ausschließlichen Vorherrschaft der englischen Sprache die außergewöhnliche Vielfalt der Realität an jedem Ort zu erhalten. (8)
- Behauptung, dass die Menschen der Erde gehören und nicht die Erde den Menschen.
- Behauptung, dass die Erde Wandlungszyklen durchläuft und dass der Tod neues Leben bringt, anstatt der Behauptung, dass die sterbende Erde von uns gerettet werden muss.
Gemeinsame Ursprünge
Vergleicht man diese Grundkonzepte mit dem anthroposophischen beziehungsweise biodynamischen Verständnis der Beziehung Mensch-Erde, wie Julia Wright es macht, wird man viele spannende Ähnlichkeiten finden. Ist diese Verwandtschaft so erstaunlich? Kommt nicht diese Substanz, dieses Wissen aus dem gleichen Ursprung? Rudolf Steiner wies immer darauf hin, dass er nichts erfunden habe, sondern in der geistigen Welt mit einer wissenschaftlichen Methode beobachtet habe. Die indigenen Völker hatten und haben ebenfalls den Kontakt mit dieser geistigen Weisheit aufrechterhalten. Es gibt mehr Ähnlichkeiten, als man denken würde. Das spricht für eine Annäherung. Die wichtigste Ähnlichkeit ist, dass man mit der ‹versteckten Hälfte der Natur› arbeitet und nicht nur mit der physisch sichtbaren. Verschiedene Soziologinnen und Anthropologen haben die biodynamischen Praktiken und die Weltanschauung dahinter untersucht. Meistens nehmen sie als Grundlage die Arbeit des Ethnologen Philippe Descola (9), der bei den Achuar in Südamerika lebte. Er versuchte, ihre Weltanschauung zu verstehen, und entwickelte daraus eine Theorie, die von vier verschiedenen Ontologien (Vorstellungen des Seins in der Beziehung Mensch-Natur) ausgeht: Animismus, Totemismus, Analogismus und Naturalismus. Er zeigte, dass unsere heutige Zivilisation auf dem Naturalismus gründet. Dessen Hypothese besagt, dass es einerseits den Menschen gibt, der in geschlossenen Gesellschaften lebt, und auf der anderen Seite etwas Fremdes: die Natur. Natur ist alles, was draußen ist, was man nutzen und ausnutzen, bewandern oder auch schützen kann. Aber es ist nicht der Ort, wo man lebt. Der Mensch ist nicht Teil der Natur. Der Naturalismus hat die Dualität Mensch-Natur erschaffen. Descola zeigt, dass die anderen drei Ontologien keine strikte Trennung zwischen Mensch und Natur machen, weswegen sie sich weniger zerstörerisch als der Naturalismus auf die lebendigen Wesen auswirken. In seiner Studie zeigt Jean Foyer, (10) dass die Biodynamik nicht nur naturalistisch, sondern auch manchmal animistisch oder auch analogistisch ist, wenn sie mit Tieren und Pflanzen spricht. Diese manchmal schematisch scheinenden Begriffe helfen den Forschenden, die biodynamischen Praktiken in ihrem gedanklichen Kontext zu verstehen. Und so helfen die indigenen Völker indirekt, unseren biodynamischen Ansatz zu verstehen.
Konsequenzen
Der Aufruf der indigenen Völker zeigt auf sehr effiziente Weise, wie man seine sonst nur implizit gehaltene Weltanschauung darstellen kann. Deutlich wurde, wie die biodynamische Landwirtschaft oder andere ökologische Landwirtschaftspraktiken ihre ‹Weltanschauung› klar darstellen sollten, um zu vermeiden, dass diese ohne Kontext als unverständlich angesehen werden. Man kann bestimmte ‹seltsame› Praktiken und Methoden wie zum Beispiel die biodynamischen Präparate Hornmist und Hornkiesel nur schwer ohne ihren Kontext verstehen. Darüber hinaus macht dieser Aufruf klar, dass die Anwendung einer Methode ohne die ihr zugrunde liegende Gesinnung auf lange Sicht keine große Wirkung haben wird. Weiter zeigt er, dass wir in unserem Kulturkreis unsere Wurzeln genauer untersuchen und anerkennen sollten, um unsere aktuelle Lebensweise stärker an die Vergangenheit anzuknüpfen und damit besser in die Zukunft zu gehen.
Als letzte Konsequenz kann man eine neue Aufgabe entdecken. Ist es nicht dringend nötig, überall auf der Welt mit den Vertretern und Vertreterinnen der indigenen Völker in Austausch zu kommen? Um die eigenen Traditionen zu vertiefen und zu vermeiden, dass die biodynamische Landwirtschaft, die ihren Ursprung in der europäischen Tradition hat, kolonialistisch wirkt. Einige biodynamische Freunde in verschiedenen Ländern haben damit bereits angefangen.
Jean-Michel Florin
Erschienen in: Das Goetheanum –
Wochenschrift für Anthroposophie
Nr. 12, 25. März 2022
Jean-Michel Florin studierte Landwirtschaft und Naturschutz (BTS Protection de la Nature) und ist seit 1988 in der Sektion für Landwirtschaft tätig, der Co-Leitung er seit 2010 innehat. Er koordiniert die biologisch-dynamische Landwirtschaft in Frankreich und publiziert zu landwirtschaftlichen und sozialen Fragestellungen und ist Referent zur goetheanistischen Botanik, Heilpflanzen, Landschaft, Weinbau und sozialer Dreigliederung.
Endnoten
Luzmila Carpio, Le chant de la terre et des étoiles (Une création inspirée par le grand livre des Indiens quechua). Harmonia Mundi, 2003
Dokumentation der Landwirtschaftlichen Tagung 2020. www.sektion-landwirtschaft. org/lwt/2020
Conclusion Congrès uicn 2021. https://uicn.fr/congres-de-luicn-bilan/
‹Le Figaro›, 30.10.2021. https://www.lefigaro.fr/flash-actu/cop26-les-peuples-autochtones-plaident-pour-la-preservation-de-80-de-l-amazonie-20211030
People have shaped most of terrestrial nature for at least 12,000 years. https://www.pnas.org/content/118/17/e2023483118
J. Wright, N. Parrott (Hg.), Subtle Agroecologies – Farming with the Hidden Half of Nature. Taylorfrancis.com (http://taylorfrancis.com/). 2021
Whitewashed Hope. 2020. https://www.culturalsurvival.org/news/whitewashed-hope-message-10-indigenous-leaders-and-organizations
Siehe Fussnote 6.
Philippe Descola, Par-delà nature et culture. Gallimard, 2005
Jean Foyer. https://orbi.uliege.be/handle/2268/241712