Eindrücke und Gedanken zur Generalversammlung 2023 in Dornach
Etwa 1.000 Kilometer fuhr ich von Norddeutschland nach Dornach. Zwischen 15.000 und 18.000 Kilometer beträgt die Strecke zwischen Neuseeland oder Australien und der Schweiz. 12.000 Kilometer ist der Kollege aus Südafrika gereist und zwischen Amerika und Dornach, wie auch zwischen China und Dornach gilt es etwa 7.000 Kilometer zu überwinden. Ein großer Einsatz, um an der jährlichen Generalversammlung teilnehmen zu können!
Die Versammlung begann am Freitagnachmittag mit einer musikalischen Einstimmung und endete am Sonntagmittag mit einem musikalischen Ausklang. 11 Themenblöcke von jeweils 45 Minuten bis zu zwei Stunden waren geplant: Am ersten Abend wurde ein anspruchsvoll gestaltetes Totengedenken gehalten. Am zweiten Abend konnte man einem lebendigen Vortrag über die Formensprache des Goetheanum zuhören, am Sonntagmorgen wurde eine Klassenstunde gehalten und parallel dazu eine Betrachtung von Rudolf Steiners Holzskulptur „Menschheitsrepräsentant“ angeboten. Die anderen sieben Einheiten waren Berichte, kurze inhaltliche Beiträge, Ausblicke und die Bearbeitung von 23 Anträgen. Die Aussicht, zwei volle Tage zu sitzen, ließ mich schon im Voraus die Luft anhalten: Kann etwas Vernünftiges zustande kommen, wenn vom ganzen Menschen hauptsächlich der Kopf angesprochen wird, fragte ich mich. Und: Wird bei diesem gedrängten Programm Zeit für die Wahrnehmung der anthroposophischen Arbeit in anderen Ländern und Kontinenten sein?
Kurze Berichte aus Australien, Brasilien, Rumänien, Neuseeland, den USA, Frankreich und Großbritannien halfen, einen kleinen Eindruck aus der Welt zu bekommen. Von den Leitern der Sektionen zu hören, ließ ahnen, welch Einsatz und Ernsthaftigkeit für die Forschung aus der Anthroposophie heraus in den verschiedenen Fachbereichen geleistet wird.
Da sehr viele Anträge (insbesondere von den Schweizer Mitgliedern) gestellt wurden, hatte der Goetheanum-Vorstand diese durch Vorgespräche in zwei Gruppen sortiert: Anträge, die abgestimmt und Anträge, die dargestellt werden sollten. Bei den Präsentationen letzterer stellte sich mir die Frage, ob jeder Antragsteller für sich geklärt hatte, was ein Antrag ist (im Gegensatz zu einem Wunsch, zur persönlichen Frage oder dem eigenen Auftrittsbedürfnis) und was von allgemeinem Interesse der aus aller Welt angereisten Mitglieder sein könnte.
Am zweiten Tag wurden die zur Abstimmung bestimmten Anträge vorgestellt. Der Hauptantrag, gestellt vom Vorstand, beinhaltete die Prozessgestaltung zur Bearbeitung folgender Fragen:
- Wie entwickeln wir eine wachsende und im wechselseitigen Austausch lebende Weltgesellschaft?
- Was war gewollt mit der Begründung der Gesellschaft 1923/24? Was ist geworden? Was will werden?
In diesen Antrag waren schon vorher Ergänzungen von Mitgliedern eingeflossen. Die meisten noch folgenden Anträge wurden nicht entschieden, sondern durch Gegenanträge in den Prozess des Leitantrages eingegliedert. Nur wenige wurden tatsächlich entschieden. Rückblickend kann ich zwei Standpunkte einnehmen:
- Was wäre gewesen, wenn alle Anträge entschieden und angenommen worden wären? Wäre unsere Gesellschaft spiritueller und wirksamer geworden? Oder ist es egal, ob wir so oder so entscheiden? Auf was kommt es wirklich an?
- Durch viele Gespräche und Auseinandersetzungen wurde erreicht, dass eine Gesellschaft, die lange Top-down geführt wurde, Mitglieder mit ihren Anliegen einbezieht, was im Moment fast zum anderen Extrem, nämlich der Forderung nach einer Art falsch verstandenen Basisdemokratie führt. Die Folge ist, dass der verantwortliche Vorstand beinahe nicht mehr handlungsfähig ist.
Große Gruppen, in diesem Fall die Teilnehmer der Versammlung, folgen eigenen Gesetzen. Das direkte Gespräch mit Erklärungen, Meinungsäußerungen, Nachfragen, die ein Einzelgespräch ausmachen, ist nicht möglich. Es gibt Zeitdruck. Höflichkeit, Nachdenken und Austausch scheinen wenig bis keinen Platz zu haben. Es entstehen Stimmungen von Reizbarkeit, Ohnmachtsgefühlen und Sorgen. Der Einzelne kann nicht mehr nachvollziehen, wie es zu der einen oder anderen Stimmung und damit zu bestimmten Abstimmungs-Entscheidungen kommt. Was ich selber zu einer Vernunft- und gleichmütigen Atmosphäre beitragen kann, ohne Redezeit zu beanspruchen, blieb mir zum Teil ein Mirakel.
Als ich meine 1.000 Kilometer zurück nach Hause fuhr, fragte ich mich, was ich auf der Generalversammlung von unserer Weltgesellschaft wahrgenommen hatte. Mein persönliches Resümee ist, dass ich viele persönliche und lokale Anliegen hörte, aber zu wenig aus den verschiedensten Ländern, was für mich eine wesentliche Rechtfertigung für die Anreise aus aller Welt wäre. Alle Verantwortlichen haben mit erheblichem Zeitaufwand die zwei Tage so geplant, dass die vielen Anträge und Fragen der Mitglieder wenn nicht bearbeitet, so doch wenigstens dargestellt werden konnten. Trotzdem schien mir die Veranstaltung ein riesengroßes Kreisen um unsere eigenen Befindlichkeiten zu sein. Schön wäre es gewesen, wenn die Überwindung der äußeren Distanzen in einem adäquaten Verhältnis zu der Überwindung innerer Distanzen gestanden hätte.
Christine Rüter, AGiD, Arbeitskollegium
Erschienen in: AgiD, https://www.anthroposophische-gesellschaft.de/ (Stand: 21.04.2023)