Ärztliches Unrecht in der NS-Zeit

Peter Selg macht auf die Gefahr aufmerksam, in die Medizin immer wieder gerät und mit Präimplantationsdiagnostik und ‹Genschere› erneut droht. Was muss hier Medizinethik leisten?

Wenn die Medizin dem Menschen gerecht werden will, muss sie auf das Individuum sehen. Der übliche Blick der Statistik ist eine Abstraktion, die den einzelnen Menschen verliert  –  eine Problematik, die auch Rudolf Steiner wiederholt betont hatte. Diese innere Entfernung vom einzelnen Menschen war die weltanschauliche Basis für Unmenschlichkeit nicht nur in der Medizin. Auschwitz war nur der Gipfel des Eisberges. Zur «Lüge des naturwissenschaftlichen Zeitalters» (1) gehört das Fehlen des Mitgefühls. Sigmund Rascher untersuchte ‹wissenschaftlich›, wie lange es dauerte, bis russische Kriegsgefangene im KZ Dachau in Eiswasser an Unterkühlung oder im Vakuum an Sauerstoffmangel starben. Bei den Sulfonamid-Versuchen im KZ Ravensbrück wurden Häftlingen schwere Wunden beigebracht, die man künstlich infizierte, zum Teil mit tödlichem Ausgang. Ethische Fragen hatte das Auditorium nicht. Nach dem Krieg machten solche Wissenschaftler geltend, dass es sich um «rechtskräftig zum Tode Verurteilte» gehandelt habe. Die in den Nürnberger Ärzteprozessen angeklagten prominenten Ärzte zeigten kein Gefühl für das Ungeheuerliche ihrer Taten. Alexander Mitscherlich fragte, wie das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nach dem Nationalsozialismus wiederhergestellt werden kann. Sein Kampf als Einzelner für eine Aufarbeitung des ärztlichen Unrechts im Dritten Reich steht im Mittelpunkt des Buchs.

Selg stellt dieses düstere Kapitel der Medizingeschichte und seine Bewältigung anhand von Schicksalsbildern dar. Der Italiener Primo Levi litt lebenslang an Schuldvorwürfen, das KZ überlebt zu haben, in dem systematisch das menschliche Mitgefühl der Gefangenen untereinander verhindert worden war. Viktor von Weizsäcker versuchte, seinen menschlichen Standpunkt auch in der fast rein nationalsozialistischen Universität Heidelberg zu wahren, zum Beispiel gegen den üblichen Begriff von der ‹Minderwertigkeit›. Von Weizsäcker ermöglichte dem von der Gestapo überwachten Mitscherlich eine Arbeitsstelle als Grundlage für sein weiteres Wirken: an die Unmenschlichkeit der Vergangenheit zu erinnern und eine menschliche Medizin einzufordern.

Gegen den Widerstand der gesamten offiziellen deutschen Ärzteschaft berichtete Mitscherlich von den Nürnberger Ärzteprozessen. Ärztefunktionäre haben über Jahrzehnte verhindert, dass Mitscherlich eine medizinische Professur bekam, gerade wegen seiner Bekanntheit und seiner epochalen Bücher: ‹Medizin ohne Menschlichkeit› und ‹Die Unfähigkeit zu trauern›.

In der Bundesrepublik setzten sich die alten Strukturen in der Ärzteschaft fort: Am Unrecht beteiligte Ärzte wurden mit wenigen Ausnahmen rehabilitiert und erhielten ihre Pension. Ihre Opfer gingen großteils leer aus. In weiten Teilen der Bevölkerung lebte der Wunsch nach dem Ungeschehen-machen-Wollen. Mitscherlich erkannte in namhaften Ärzten wie Prof. Sauerbruch «Exponenten einer Verdrängungskultur». Kaum jemand zeigte Bereitschaft, «eigenes Versagen, direkte oder indirekte Schuld einzugestehen». Dabei vertritt Selg die interessante These, dass sich der Antisemitismus des Nationalsozialismus zum Feindbild des Antikommunismus der Bundesrepublik wandeln konnte.

Bereits Ende der 1940er-Jahre erkannte Alexander Mitscherlich, dass der Mensch in einer technisierten Medizin auf der Strecke bleiben kann. Weitere Protagonisten für eine menschliche Medizin waren und sind zum Beispiel Gerhard Kienle und Giovanni Maio. Maio erinnert an die «grundsätzliche Korrumpierbarkeit von Ärzten» und fordert sie auf, mutig zu sein. Kienle fragte seine Studierenden: «Welche Aufgaben wollen Sie für Ihre Umwelt erfüllen?» oder: «In welchen in der Gesellschaft wirkenden Ansichten sehen Sie Lebenslügen?»

Inzwischen ist in der Medizin technisch bei Weitem mehr möglich als vor 80 Jahren. So stellen sich die ethischen Herausforderungen viel stärker, auch wenn sie subtiler auftreten. Selg macht regelmäßig mit Medizinstudierenden der Universität Witten-Herdecke Exkursionen nach Auschwitz. Ihre Berichte beleuchten, wie diese Besuche lebensbestimmend werden können. In diesem Zusammenhang erfährt man auch von mutigen Frauen im Häftlingskrankenhaus von Auschwitz-Birkenau, die den menschlichen Zusammenhalt bewahrten, den Primo Levi so schmerzlich vermisst hatte. Die Botschaft dieses unbequemen Buchs ist, dass Auschwitz nur ein Extremfall von Menschenverachtung war, aber auf der Basis einer materialistischen Weltauffassung fußte. Menschlichkeit kann es nur von Mensch zu Mensch geben  –  auch in einer technisierten Medizin.

Karl-Reinhard Kummer

erschienen in: Das Goetheanum – Wochenschrift für Anthroposophie Nr. 42, 15. Oktober 2021

(1) Alle Zitate stammen aus dem Buch: Selg, Peter: Nach Auschwitz. Auseinandersetzungen um die Zukunft der Medizin, Verlag des Ita-Wegman-Instituts, Arlesheim 2020.