100 Jahre Bewegung  für religiöse Erneuerung

Religiöse Erneuerung bedeutet Erweiterung des Bewusstseins. Wenn das geschieht,  kann man erst recht von einer Menschenweihe sprechen.

Die Christengemeinschaft, Bewegung für religiöse Erneuerung, wurde am 16. September 1922 mit dem Vollzug der ersten Menschenweihehandlung gegründet. Es waren mehrheitlich protestantisch gebildete Theologen, die Rudolf Steiner um Hilfe gebeten hatten. Bei Michael Bauer kamen sie im Vorfeld öfter zusammen, aber maßgeblich war Rudolf Steiners Rat und Tat. Als eigentlicher Begründer hat er sich dennoch nie betrachtet.

Nach 100 Jahren wird dem bedeutenden Ereignis vielfach von berufener Seite gedacht. (1)  Etwas davon soll hier von einem langjährigen Mitglied der Christengemeinschaft betrachtet werden. Die Mitte der sieben Sakramente, die der Christengemeinschaft anvertraut wurden, bildet gewissermaßen die Menschenweihehandlung. Jedes Sakrament ist ein übersinnliches Geschehen, das zugleich ganz im Sinnlichen vollzogen wird und sich an alle Sinne des Menschen wendet. Über die Menschenweihehandlung und ihr Erleben wurde manches geschrieben.(2)  Es könnte sein, dass auch ein aktiv Mitvollziehender der Weihehandlung mehr erlebt, als sein Tagesbewusstsein erreicht. Das ist an sich normal, aber bei einem Sakrament nur teilweise nötig. Religiöse Erneuerung bedeutet auch die Erweiterung dieses Bewusstseins. Wenn sie sich ereignet, kann man erst recht von einer Menschenweihe sprechen.

Was die Seele in tieferen Schichten erlebt, ohne dass es im Tagesbewusstsein sichtbar wird, kann hin und wieder nachts im Traum Gestalt gewinnen.

Was die Seele in tieferen Schichten erlebt, ohne dass es im Tagesbewusstsein sichtbar wird, kann hin und wieder nachts im Traum Gestalt gewinnen. Nachts, wenn die Leibessinne schweigen, klingen auch unbewusste Tageseindrücke nach. Ein Traum ist immer persönlich und ihm klebt viel Zufälliges an. Aber manchmal scheint da etwas Überpersönliches hindurch. Nur solche Träume sind es wert, veröffentlicht zu werden, denn sie haben allgemeinere Bedeutung. Um diese zu gewahren, muss man durch alles Zufällige hindurchschauen. Das ist nicht leicht, denn dazu gehören auch Ort und Zeitpunkt, die Anlass des Traumes gewesen sein können. In der Überzeugung, dass sie etwas Allgemeingültiges über die Menschenweihehandlung sagen können, werden hier zwei solche Träume erzählt. Ort ist Amsterdam und Zeit der Umzug der vom Urpriester  H. A. P. J.  Ogilvie dort gegründeten Gemeinde der Christengemeinschaft aus einem rechteckigen Raum in Amsterdam zur neuen Andrieskerk am Stadtrand. Die Andrieskerk wurde aus Backstein in organischen Formen gebaut und Wilfried Ogilvie malte ein großes Altargemälde, das ohne Abgrenzung in die Wände des Kultraums übergeht. Dieses Gemälde spielt im zweiten Traum eine wichtige Rolle.

Dem inneren Raum entsprechen

Im ersten Traum fühlte der Träumende sich etwas bedrückt unter einer Empore hinten in einem rechteckigen langen Raum sitzen. In dem Moment, in dem die Menschenweihehandlung begann, stülpte der ganze Raum sich um und wurde eher rund und organisch. Der Traum könnte besagen, dass die Weihehandlung ohnehin ihren eigenen Raum mitbringt. Äußerlich kann der Kultraum dann notfalls rechteckig sein. Wenn er dem inneren Raum entsprechend organisch gestaltet ist, eignet er sich allerdings weniger für alltägliche Zwecke. Womöglich wird die Weihehandlung auch schon hörbar, bevor andere Sinne sie wahrnehmen können, so wie sich der Aufgang der Sonne, bevor sie über den Horizont tritt, manchmal im Vogelgesang ankündigt. Wahrscheinlich klingt ein Sakrament so auch nach und kann die Welt, aus der es stammt, bei der Weihehandlung auch durch die Öffnungen zwischen ihren Teilen hereinscheinen. An diesen Stellen könnte die Musik diese Welt wie vorher und zum Abschluss erklingen lassen. Bei der Versorgung der Musik der Christengemeinschaft in Amsterdam half diese Vorstellung.

Glaubenswahrheit oder Geisterkenntnis

Der zweite Traum spielte sich im neuen Weiheraum der Andrieskerk ab. Der Priester am Altar wartete, bis es still wurde, denn durch die auf den Bänken zerstreuten Anwesenden ging wie ein Weberschiffchen ein anhaltendes Gemurmel hin und her. Es gab nur eine rechte Ministrantin, die auch die Aufgaben des linken Ministranten versah. Plötzlich wurden die Verstorbenen sichtbar, die aufrecht, als durchsichtiger Block, in der Mitte standen und all ihre Aufmerksamkeit auf den Altar gerichtet hatten. Das leise Stimmengewirr unter sich verdammten sie nicht, aber von ihrer ungeteilten Andacht ging unwillkürlich doch etwas wie ein stillschweigendes Urteil aus. Die anwesende Gemeinde schien es nicht zu bemerken. Als der Priester schließlich trotz fehlender Stille die Weihehandlung begann, strömte gleichsam die Kraft des Gemurmels im Traum durch ein dickes, gelbes Geflecht zur Ministrantin hin und von ihr weiter zum Wandgemälde, das dadurch zu leben begann. Nicht, als ob die große Figur darauf sich plötzlich bewegte, sondern es trat ein nicht abreißender Strom neuer, großer Bilder hervor. Sie waren alle aus der Offenbarung von Johannes. Dass dem Träumenden die meisten dieser Bilder beim Aufwachen entfallen waren, ist wenig verwunderlich, denn die geträumte schnelle Folge der apokalyptischen Bilder riss erst ab, als die Menschenweihehandlung vollendet war. Danach kam das ursprüngliche Altargemälde wieder zum Vorschein und das bewegende Leben floss durch die Ministrantin zurück zur inzwischen längst still gewordenen Gemeinde.  –  Man kann den Eindruck haben, dass auf dem Boden vieler moderner Seelen etwas Apokalyptisches rumort, das, wenn es bewusstes Bild würde, als Okular dienen könnte.

Handelt es sich bei diesen Überzeugungen um Glaubensgewissheit oder um beginnende Geisterkenntnis? Lange war die Kluft zwischen Glauben und Wissen maßgeblich, aber vieles deutet auf einen Paradigmenwechsel hin. In ihrem Buch ‹Brücken zwischen Leben und Tod› spricht Iris Paxino davon und unter Verweis auf medizinische Nahtoderfahrungen schreibt die Psychologin: «Das, was zuletzt kontrovers als Glaube oder Nichtglaube an eine Existenz nach dem Tod diskutiert wurde, wird nun immer deutlicher von einer Spiritualität abgelöst, die auf persönlicher Erfahrung basiert.» (3)  Vor Kurzem hat dagegen der bedeutende Sozialphilosoph Jürgen Habermas ein umfangreiches Alterswerk publiziert, das eine Art Philosophiegeschichte ist, deren zwei Bände zugleich den Gegensatz von Glauben und Wissen behandeln. (4)  In religiösen Fragen werden wahrscheinlich noch lange Zeit dieser Gegensatz auf der einen Seite und zunehmende spirituelle Erfahrung und Erkenntnis auf der anderen bestimmend sein. Durch ihre Lehrfreiheit konnte die Christengemeinschaft viel zur Überwindung der Polarität beitragen. Diese Aufgabe dürfte in den nächsten hundert Jahren noch wichtiger sein.

Martin Kollewijn

Endnoten

1) Siehe zum Beispiel das beeindruckende Buch von Rudolf Gädeke, Die Gründer der Christengemeinschaft. Ein Schicksalsnetz. Stuttgart 2021.

2) Siehe u. a. Tom Ravetz, Die Menschenweihehandlung. Stuttgart 2019, und Hans-Werner Schroeder, Vom Erleben der Menschen-Weihehandlung. Stuttgart 1997.

3) Iris Paxino, Brücken zwischen Leben und Tod. Begegnungen mit Verstorbenen. Stuttgart 2018, Seite 23  f.

4) Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. Berlin 2019

Martin Kollewijn, geboren 1953 in den Niederlanden. Nach dem Studium der niederländischen Philologie und der Philosophie in Amsterdam studierte er Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin. 1987 bis 1991 Mitarbeit am Hardenberg Institut für Kulturwissenschaften in Heidelberg, von 1991 bis 2007 Mitarbeiter der Anthroposophischen Gesellschaft in Berlin. Martin Kollewijn publiziert zu Fragen der Philosophie und Geistesgeschichte. Weitere Forschungsthemen: Kunst der Gegenwart, Bewusstseinsentwicklung, Fragen der Bioethik und Neurowissenschaft.

Erschienen in: Das Goetheanum – Wochenschrift für Anthroposophie Nr. 37, 16. Sept. 2022