Wir leben in restaurativen Zeiten

Es sind führende Kulturschaffende, die Philip Kovce ins Basler Café Unternehmen Mitte für Gespräche einlädt. Jetzt war Richard David Precht bei ihm zu Gast. Der Titel des philosophischen Dialogs lautete ‹Freiheit für alle›, wie Prechts aktuelles Buch über die Zukunft der Arbeitswelt.

Wie Arbeit und Freiheit zusammenpassen, ist die Eingangsfrage. In der Linie von These und Antithese nimmt Richard David Precht mit ‹Plage› und ‹Plackerei› die Umschreibungen für Arbeit, die alles andere als Freiheit und Freiwilligkeit bedeuten, und schwenkt dann zu Ludwig Erhards Buch ‹Wohlstand für alle›. Der ehemalige Vizekanzler und Wirtschaftsminister Deutschlands gilt als Vater der sozialen Marktwirtschaft und des Konzepts, wirtschaftlichen Erfolg mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. Sein Buch, so Precht, sei eine Neuauflage dieser literarischen Wegmarke hin zu einer Ökonomie, die alle Menschen erreicht, die niemanden zurücklässt. «Das habe ich aufgegriffen und gesagt: Wenn wir jetzt ins zweite Maschinenzeitalter eingehen, dann ist die Prophezeiung dieses zweiten Maschinenzeitalters, an dessen Anfängen wir stehen, dass es nicht nur zu einem Wohlstand für ‹alle› kommen könnte.» Mit ‹alle› waren damals allein Deutsche gemeint, das dürfe man nicht vergessen, so Precht. Dann beschreibt er, was sich in vielen Zukunftsbildern über das Wie und Was der Arbeitswelt findet: Die digitale Revolution, das ‹zweite Maschinenzeitalter›, wie Precht es nennt, das Zeitalter der künstlichen Intelligenz, ermöglicht uns, nur noch die Arbeit zu tun, die wir wollen. Während das erste Maschinenzeitalter alle routinemäßige Arbeit der menschlichen Hand mit Maschinen ersetzte, ist es nun das menschliche Gehirn, das seine routinemäßigen Arbeiten abgibt. Was übrig bleibt bzw. neu entsteht, sind die Berufe, die wir gerne machen. Vier Berufsfelder nennt Precht hier: Spitzenpolitik, Management und Steuerungsberufe, Handwerk und die empathischen Berufe in Kunst, Bildung und Wissenschaft.

Auf dem Weg in die Sinngesellschaft

Precht erinnerte daran, dass eine ‹sichere› und ‹gut bezahlte› Arbeit noch in den 80er-Jahren Credo gewesen sei. Tatsächlich wird heute kaum jemand den Kindern empfehlen, eine ‹sichere› Arbeit zu suchen. Eine Arbeit finden, die glücklich macht und erfüllt, die Zeit für Familie, Freunde lässt, das ist und wird immer mehr die selbstverständliche Forderung. Es sei, so formuliert es Precht, der Wechsel zu einer ‹Sinngesellschaft›. In ihr ist es am wichtigsten zu fragen: Was muss ich machen, um ein gutes und richtiges Leben zu führen? Die Arbeit ist dabei ein Teil der Antwort. Was in Feudalgesellschaften für das oberste Prozent galt und in bürgerlichen für wenige Reiche, das betrifft nun alle. Diesen Gedanken griff Philip Kovce mit der Frage nach dem bedingungslosen Grundeinkommen auf  –  mit der Fußnote, dass am Tag des Gesprächs der 80. Geburtstag von Götz Werner sei. Götz Werner, so Precht, habe das Thema bedingungsloses Grundeinkommen ‹salonfähig› gemacht, weil er als erfolgreicher Unternehmer nicht im Verdacht stehe, studentischen Träumereien oder kommunistischen Erlösungsfantasien nachzuhängen. Gleichzeitig bedauere er, dass Werner seine Idee kaum modifiziert habe. Warum jetzt, nach Jahren lebhafter Diskussion und staatlicher Versuche, kaum mehr über das bedingungslose Grundeinkommen gesprochen werde, wollte Philip Kovce wissen. Vielmehr werde mit dem Bürgergeld die Vergangenheit mit einem Salto rückwärts wiederbelebt.

Dann brachte Richard Precht einen seiner Kerngedanken: «Wir erleben in vielen westeuropäischen Ländern, mit Deutschland an der Spitze, ein Zeitalter der Restauration. Wir bewegen uns im Augenblick rückwärts.» Das sei nicht ungewöhnlich, denn tatsächlich gehöre es zur geschichtlichen Entwicklung, dass nach Aufbrüchen und Revolutionen häufig Kehrtwenden und Restauration folgen. Bestes Beispiel sind die Jahre nach Napoleon. Dessen Revolution, die auch Landesgrenzen verschob und die Entmachtung des Adels brachte, wurde mit dem Wiener Kongress wieder zurückbuchstabiert. Aufklärung  –  Französische Revolution  –  bürgerliche Gesellschaft und dann soziale Marktwirtschaft, das sei keine gerade aufsteigende Linie. Vielmehr gab es dazwischen die Rückkehr in Monarchie und Diktatur. Vermutlich haben die Corona-Krise und Russlands Krieg in der Ukraine diese Restaurationszeit in Gang gesetzt.

Warum keiner mehr vom Grundeinkommen spricht

Die beste Zeit hatte das Grundeinkommen nach dem Erscheinen der Oxford-Studie von 2012 über die Zukunft der Arbeit. Die Forschenden nahmen 701 Berufe und ermittelten die Kompetenzen, die an diesen Arbeitsplätzen gebraucht werden. Dann fragten sie Experten und IT-Entwicklerinnen, was sich davon innerhalb von 25 Jahren automatisieren lasse. Precht erinnerte daran, dass sich in einer Generation ohnehin etwa 20 Prozent der Arbeit austausche  –  der Kutscher und die Wäscherin sind dafür zwei Beispiele. Die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts waren eine Zeit des Fortschritts- und Fortschrittsglaubens. Da gehöre die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen dazu. Während ein Überfluss an Arbeitskräften danach rufe, neue Lösungen zu suchen, drängt ein Fachkräftemangel wie er jetzt besteht dazu, frühere Zeiten herbeizusehnen, als man noch genug Arbeitende fand. Wie man aus einer restaurativen Zeit wieder herauskommt, das blieb an dem einstündigen Abend offen. Stattdessen setzte Precht zur Arbeit eine Idee: Manche persönlichen Entwicklungen entscheide man nicht freiwillig, eine Sinngesellschaft dürfe uns nicht vollständig entpflichten. Sein eigener Zivildienst sei solch eine Zeit persönlicher Entwicklung gewesen, die er nicht frei ergriffen hätte, wenn er die Wahl gehabt hätte. Warum, so fragte Precht, erfinden wir nicht neben einem sozialen Pflichtjahr Anfang 20 nach der Schulzeit ein weiteres für alle, die mit Mitte 60 aus dem Berufsleben ausscheiden? Precht musste seinen Vorschlag nicht erklären. Der Vorschlag sprach für sich, wie auch die physische Präsenz des Denkers, wie auch das einfache, unübertroffene Format des Abends: Zwei, die für sich nachgedacht haben, sprechen und denken nun zu zweit.

Wolfgang Held

Erschienen in: Das Goetheanum – Wochenschrift für Anthroposophie Nr. 8, 23. Februar 2024