Wer führt, führt sich selbst

Im 21. Jahrhundert kann Führung nicht mehr die Führung von oben sein. Durch Führung soll das Ich, das Individuellste im Menschen, erwachen und sich schulen.

Der Autor Jordan Walker sprach mit Joan Sleigh, ehemals Vorstandsmitglied am Goetheanum, über die Selbstführung im Führen und das beziehungsbasierte Lernen heute.

Jordan Walker:  Es ist über zwei Jahre her, dass du den Vorstand am Goetheanum verlassen hast. Was hast du seitdem angefangen?

Joan Sleigh:  Im November 2020 bin ich nach Kapstadt, Südafrika, zurückgekehrt – nach fast acht Jahren in Dornach. Mich interessierte das Thema authentische Führungskraft und Organisationsmanagement. Ich habe mich an der Universität von Kapstadt für einen Executive Master in Business Administration, einen Wirtschaftsstudiengang speziell für die Ebene der Führungskräfte, eingeschrieben. In einem internationalen Team von Forschenden geht es um Führung und integratives Denken. Außerdem habe ich weiterhin im Koordinationsteam des World Social Initiative Forum an der Sektion für Soziale Wissenschaften am Goetheanum mitgewirkt.

Walker: Es muss sehr interessant sein, in die besten Führungspraktiken des Mainstreams einzutauchen!

Sleigh: Ja, Führung definiert sich heute neu und die Krisen der Welt scheinen dafür neue persönliche und soziale Kapazitäten freizumachen. Ich sehe ‹Führung› als das an, was als Ausdruck des Ich in zielorientiertem Handeln aufsteigt. Je selbstbewusster und selbstgeführter diese Handlungen sind, desto heilsamer wird das Engagement. Das Ich kann sich aber nur selbst in Beziehung zu anderen Wesen erkennen. Es findet sich in einer ständigen Wechselbeziehung mit einer sich verändernden Welt. Führung verlangt ein sensibles Zusammenspiel von und Verantwortung für das innere Wachstum innerhalb einer werdenden Welt.

Walker: Findest du, dass dies innerhalb des World Social Initiative Forum (WSIF) bereits geschieht?

Sleigh: Auch das  WSIF  war durch die Pandemie an zwei Punkten gefordert, neue Wege zu gehen: in der Begegnung und in der Kommunikation. Immer mehr Online-Workshops sind so entstanden. Wir stellen fest, dass es ein Verlust ist, sich nicht persönlich begegnen zu können, und dass wir noch achtsamer im Sozialen sein müssen, wenn wir online sind. Unser neues Programm Leadership in Transformation (LIT) versucht, bewusst die Vorteile aus diesem Umstand zu sehen und neue Gesprächsräume zu erforschen und zu prägen, die Verletzlichkeit und Empathie zwischen uns zulassen. Unser Eindruck ist, dass es so auch im Sozialen stimmig sein kann, wenn wir ein erhöhtes Bewusstsein in unsere Interaktionen bringen.

Walker:  Was möchtet ihr in dem Kurs schaffen?

Sleigh:  In diesem neunmonatigen Kursforum soll sich eine Gemeinschaft bilden, die diese neue Art der Führung erlernen kann. Es ist ein Hybridprogramm, das jetzt online startet und 2023 in einem Vor-Ort-Kolloquium in Ruskin Mill Trust in Großbritannien gipfeln wird. Wir versammeln eine weltweite Fakultät von Individuen, die in ihrer Arbeit praktische Beispiele von Rudolf Steiners sozialer Dreigliederung geben. In Anbetracht der Polarisierung, der Ungewissheit und der Angst, denen sich unsere Gesellschaften heute gegenübersehen, sind Selbstführung und Achtsamkeit nicht nur Soft Skills, sondern Qualitäten einer Lebensart, die innere Schulung und Nahrung braucht. Die dringende Frage heute ist: Wie können wir unsere ausgetretenen Pfade und unser Standarddenken überwinden und offen erkunden lernen, was wir nur durch die anderen lernen und üben können?

Erschienen in: Das Goetheanum – Wochenschrift für Anthroposophie Nr. 13, 1. April 2022