Warum Gemeinschaftsbildung?

Forschungsprojekt mit der Jugendsektion des Goetheanum

Was ist es, das anthroposophische Lebensgemeinschaften auszeichnet? Worin liegt ihr Kern, worin ihr Potenzial für die Zukunft? Ein Forschungsprojekt in Kooperation mit der Jugendsektion des Goetheanum will diesen und weiteren Fragen nachgehen.

Was sind die speziellen, sozialtherapeutisch wirksamen Bedingungen einer anthroposophischen Lebensgemeinschaft? Was macht die besondere Stimmung aus, die BesucherInnen so oft wahrnehmen? Und wie unterscheidet sich der Lebensgemeinschaftsimpuls von anderen Formen der Begleitung von Menschen mit Behinderung? Fragen wie diese bewegen Menschen der Gemeinschaft Altenschlirf seit 2018 gemeinsam mit Verantwortlichen aus den Lebensgemeinschaften Sassen und Richthof sowie dem Münzinghof in regelmäßigen kollegialen Treffen. In einem gemeinsamen Projekt mit ForscherInnen der Jugendsektion des Goetheanum in Dornach (Schweiz) wollen wir ihnen nun noch weiter auf den Grund gehen.

„So normal wie möglich“

Wie schaffen wir es, die Faktoren zu erkennen, die es möglich machen, dass solche Gemeinschaften leben und sich weiterentwickeln? Wie tragen wir Sorge dafür, diesen Impuls auch zukünftig zu stärken und in die Zukunft zu tragen? Wie können wir über unsere Motive so sprechen, dass sie auch von anderen verstanden werden? Das augenscheinlichste Kriterium einer Lebensgemeinschaft ist, dass Menschen mit und ohne Assistenzbedarf in Hausgemeinschaften dauerhaft zusammenleben. Die Grenze zwischen Hilfeempfangenden und begleitenden Fachkräften wird hier bewusst zugunsten eines familienorientierten Hausgemeinschaftsmodells aufgehoben und in eine Form des Zusammenlebens geführt, die einem „So normal wie möglich“ in weitestgehender Form entspricht – und zwar gemessen an den Möglichkeiten und Bedürfnissen der schwächsten MitbewohnerInnen.

Im Kleinen wird hier verwirklicht, was in der größeren Dimension der Gesellschaft erst errungen werden muss und wofür zu Recht die durch die UN-Behindertenrechtskonvention angestoßene Inklusionsdebatte geführt wird. Die BewohnerInnen haben am Leben der Hausgemeinschaft teil und leben ihren individuellen Fähigkeiten entsprechend selbstbestimmt. Dass sie sich zugehörig und sozial einbezogen fühlen, sind Qualitäten, die hier wie selbstverständlich gelebt werden, ohne von außen eingefordert werden zu müssen. Behindernde Barrieren werden so selbstverständlich abgebaut, wie sie ein jeder auch bei sich zu Hause abbauen würde. Anders als Fachkräfte, die im Schichtdienst arbeiten, bilden die in den Hausgemeinschaften zusammenlebenden Menschen eine weit über das beruflich professionelle hinausgehende Beziehungsebene. Sie gestalten gemeinsam ihren Lebensort. Menschen mit Assistenzbedarf können so an normalerweise privaten Lebensbereichen teilhaben, die ihnen aus ihren eigenen Gestaltungskräften heraus häufig nicht, oder nur unzureichend zur Verfügung stehen.

Der Geist kann behindert werden – aber niemals behindert sein

In Gesprächen mit Menschen, die in solcher Weise ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt im Sinne einer tatsächlichen Gemeinschaftsbildung verbinden wollen, zeigen sich drei Motive: Fachlichkeit im Beruf der Behindertenhilfe, Wille zu Gemeinschaftsbildung und das anthroposophische Menschenbild als gemeinsame intentionale Grundlage. Während die ersten beiden Punkte fast selbsterklärend sind, ist bei dem letzten nicht ohne weiteres ersichtlich, was das anthroposophische Menschenbild für die Gemeinschaftsbildung leistet? Es weitet den Blick auf die seelischen und geistigen Dimensionen des Menschseins über die schlichte und möglicherweise mit Beeinträchtigungen versehene Physis (und Psyche) hinaus. Es weitet den Blick darauf, was neben einer bestmöglichen Versorgung des Körperlichen hinaus für die menschliche Entwicklung weiter nötig ist. Und es weitet den Blick auf den menschlichen Wesenskern, das Geistige im Menschen. Dieses kann zwar in seiner irdischen Ausprägung behindert werden, in seiner eigentlichen geistigen Identität aber niemals behindert sein. Diese gleiche Augenhöhe im Geistigen bildet die Grundlage dafür, auch im Irdischen, wo häufig die Unterschiedlichkeiten dominieren, auf eine gleiche Augenhöhe zu kommen und den Mitmenschen nicht als Leistungsempfänger, sondern als gleichwertigen Teil der Hausgemeinschaft zu erleben.

Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, hat immer wieder auf die Notwendigkeit der seelischen Entwicklung des Einzelnen hingewiesen. Nicht als pädagogische Doktrin oder ethisch-moralischer Fingerzeig, sondern als Notwendigkeit des modernen Menschen, um sich den alltäglichen sozialen Fragen und Herausforderungen zu stellen. Und er hat Wege und Bedingungen aufgezeigt, wie eine solche seelische Entwicklung bewusst ergriffen und angegangen werden kann. Im heilpädagogischen Kontext hat Steiner auf die besondere Bedeutung einer Seelen-Pflege hingewiesen, als notwendigen Ausgleich der Beeinträchtigungen eines Menschen, die den individuellen Inkarnationsimpuls behindern.

Seelenpflege für alle

In anthroposophischen Lebensgemeinschaften finden sich Menschengemeinschaften zusammen, die in ähnlicher Weise Kräfte für ihre seelische Entwicklung und Seelenpflege suchen. Sie sind aus unterschiedlichen Perspektiven in gleicher Weise seelenpflegebedürftig. Unabhängig vom jeweiligen Motiv, werden dieselben Kräfte benötigt: Kräfte, die die Seele nähren und pflegen. Rudolf Steiner beschreibt diese als Äther- oder Lebenskräfte. Daher ist es ein gemeinsames Merkmal anthroposophischer Lebensgemeinschaften, dass in besonderer Weise alles, was solche Lebenskräfte aufbaut, gepflegt wird: die gemeinsam gestalteten Tages-, Wochen- und Jahresrhythmen, die gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten oder die gepflegten Tischrituale. Auch die Beschäftigung mit jahreszeitlichen und religiösen Themen beim Evangelienabend und der sonntäglichen Morgenfeier gehört dazu, die bewusste Gestaltung der Wohnräume und -häuser, das Schaffen von Kultur und Kultus oder biologisch-dynamische Landwirtschaft. All das wirkt unterstützend auf die drei Seelenkräfte Denken, Fühlen und Wollen und trägt dazu bei, dass seelische Entwicklung und Seelenpflege konkret im Alltäglichen stattfinden. In diesem Sinne wird anthroposophische Sozialtherapie nicht zur medizinischen oder pädagogischen Fachdisziplin, sondern wirkt therapeutisch durch den gemeinsam gelebten und bewusst gepflegten Alltag.

Dem gegenüber steht eine Lebenswirklichkeit, die immer stärker in die Individualisierung, in die Vereinzelung drängt. Soziale Prozesse werden immer schwieriger, Gemeinschaften immer weniger selbstverständlich. Alles scheint dem Lebendigen den Atem zu nehmen, immer mehr ist notwendig, um noch genug Kraft zum Leben zu behalten. Diese Entwicklung betrifft auch die anthroposophischen Lebensgemeinschaften. Aber sie versuchen, dem etwas anderes kreativ entgegenzusetzen, Lebenskräfte zu bewahren und da heraus Entwicklung möglich zu machen.

Vielleicht ist es das, was von außen als „besonders“ erlebt wird? Was BesucherInnen mit Begriffen wie Herzenswärme oder Entschleunigung beschreiben – als „soziale Barrierefreiheit“, die es auch dem schwächsten Mitglied möglich macht, am Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben, ohne sich dieses Recht erst erkämpfen zu müssen? Es ist etwas, was nicht nur den Schwächsten zugutekommt, sondern nach dem wohl alle Menschen eigentlich eine tiefe Sehnsucht verspüren, was aber in unserer heutigen Gesellschaft immer mehr zum Mangel und deshalb als besonders erlebt wird, weil es nicht mehr selbstverständlich vorhanden ist.

Was hier lediglich skizziert wurde, soll im Rahmen des Forschungsprojekts weiter untersucht und ausgeführt werden. Wenn in Lebensgemeinschaften anfänglich gelingt, was im großen, gesamtgesellschaftlichen Kontext erst noch herangebildet werden muss, dann kann eine solche Forschung einen Beitrag für eine zukünftige gesamtgesellschaftliche Entwicklung leisten!

Tobias Raedler

Erschienen in: Altenschlirfer Brief Nr. 42/21

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Große Vorhaben brauchen große Unterstützung: Derzeit suchen die drei Gemeinschaften Sassen und Richthof, Münzinghof und Altenschlirf noch nach Förderung für dieses ambitionierte Projekt. Da die Zukunftsfrage der Lebensgemeinschaften für alle Mitarbeitenden, Bewohner:innen, Angehörige und Freund: innen von zentraler Bedeutung ist, hoffen wir auf vielfältige Unterstützung – auch jede kleine Spende ist dafür willkommen.

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