Schöne neue Welt

Künstliche Intelligenz: Soziale Dreigliederung auf dem Prüfstand Teil 5

KII im Geistesleben

KII-Technologien werden heute und in naher Zukunft vor allem im Bereich der Wissenschaften eingesetzt werden. Versuche, sie im Kunstbereich zur Produktion von Kunst einzusetzen, gibt es; ob sie aber beim Publikum Resonanz finden werden, ist noch unklar. Denkbar ist, dass sie zur billigen Produktion von Gebrauchsmusik oder Dekor eingesetzt werden.

Der tote Geist wird (schein)lebendig

Im Wissenschaftsbereich können KII-Technologien überall da eingesetzt werden, wo Daten in digitalisierter Form vorliegen. Fast jede Hypothesenbildung ist heute mit der Erstellung von quantitativen Modellen verbunden, für die Daten digital erhoben und mit statistisch-mathematischen Methoden ausgewertet werden. KII wird hier zur Auswertung und immer stärker auch zur Prognose eingesetzt werden.

Die Anziehungskraft mathematisch-quantitativer Modelle auch und vor allem im Bereich der Bio- und Sozialwissenschaften liegt in ihrer scheinbaren Objektivität. Diese Anziehungskraft war und ist so groß, dass die Reduktion des Beobachtungsfeldes auf alles, was quantifizierbar ist, gerne in Kauf genommen wird. Die Digitalisierung in der Wissensproduktion moderner Forschungsbetriebe hat einerseits eine große Beschleunigung und andererseits eine größere Komplexität in der Modellbildung mit sich gebracht. Das Modell des Erdklimas, mit dem die Klimatologen heute operieren ist z.B. um ein vielfaches komple- xer als die Modelle, mit denen man in den 1970er Jahren anfing. Ohne Computerunterstützung wären solche Modelle praktisch nicht beherrschbar.

Man darf davon ausgehen, dass die quantitativ-statistisch-reduktionistische Wissensproduktion unserer Zeit sich gerne von KII unterstützen lassen wird. Dieser ungeheure Rechenaufwand soll die Modelle besser mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen. Ob das gelingen wird, muss man abwarten.

Meine Skepsis gründet sich vor allem auf der Tatsache, dass die nicht-mathematisierbaren Anteile der Wirklichkeit in den Modellen gar nicht vorkommen und dass der Einsatz von KII einen zusätzlichen Sog in Richtung auf reduktionistische Modellvorstellungen erzeugen wird.

Wird sich die Spaltung zwischen Wirklichkeit und Schulwissenschaft durch KII vergrößern oder verkleinern? Es wird wohl beides passieren: einerseits stimmigere Ergebnisse im Einzelfall und andererseits krasse Fehlprognosen im Großen. So lassen sich z.B. kurzfristige Entwicklungen an der Börse gut mit mathematischen Modellen abbilden und für erfolgreiche Börsengeschäfte nutzen. (40)  Dass mit solchen Modellen große Crashs prognostizierbar und dadurch eventuell verhinderbar sind, ist wohl eher nicht der Fall.

Die Finanzierung des Geisteslebens

Die Erforschung und Weiterentwicklung von KII ver- schlingt unglaublich viel Geld. Es wäre ein eigenes hochinteressantes Forschungsprojekt, hier Licht in das Dunkel zu bringen und ein Kostenmonitoring über z.B. die letzten 30 Jahre zu erstellen. Das Google-Tochterunternehmen DeepMind beispielsweise machte 2018 einen Verlust von 572 Mio. $ und sitzt gleichzeitig auf einem Schuldenberg in Höhe von 1,26 Mrd. $, der natürlich von der Muttergesellschaft gedeckt ist. (41)  Wie hoch ist wohl die Summe, die weltweit in KII investiert wird bzw. wurde?

Dieses Geld fehlt natürlich anderswo im Geistes- und Kulturleben. Wie viele Lehrer könnten davon bezahlt werden, wie viele Kindergärtner und Krankenschwestern? Aus Dreigliederungssicht sind wir hier an der Schnittstelle zwischen Wirtschaftsleben und Geistesleben. In den USA wird das Geistesleben zu einem großen Teil vom Wirtschaftsleben direkt, ohne Umweg über den Staat, finanziert. Es handelt sich oftmals um Risikokapital, bei dem der Investor weiß, dass sein Investment verloren gehen kann. Es handelt sich also in Wirklichkeit um Schenkungsgeld und nicht um eine echte realwirtschaftliche Investiti- on. Aber aufgrund des Eigentumsrechts entscheidet über solche hochbrisanten strategischen Investments nur die Unternehmensleitung und nicht die gesamte Gesellschaft, die aber am Ende des Tages mit den Folgen leben muss.

Wie kann das Geistesleben an Schenkungsgeld kommen? Das ist die entscheidende Frage, die sich hier stellt. Das Beispiel USA zeigt meiner Ansicht nach, dass es nicht ausreicht zu fordern, der Staat solle sich aus der Finanzierung des Geisteslebens zu- rückziehen. Würde man dies sofort umsetzen, wären die Forschungseinrichtungen ganz schnell abhängig von Risikokapital aus dem Wirtschaftsleben. Dieses sammelt sich vor allem bei den großen Unternehmen an. Somit könnten diese einen überproportional großen Einfluss auf die Forschung nehmen.

Das Schenkungsgeld ist volkswirtschaftlich der gesamtgesellschaftlich erwirtschaftete Gewinn, der üb- rig bleibt, wenn man die Lohn- und Investitionskosten abzieht. Wie kann der Schenkgeldstrom neutralisiert werden, sodass sich in ihm weder staatlich-politische Lenkungsinteressen noch einzelwirtschaftliche Ge- winninteressen noch ideologische Forschungsziele abbilden? Hierfür wird eine neue Art von öffentlich-rechtlichen Non-Profit-Banken benötigt, die einerseits über assoziative Prozesse wissen, welche wissenschaftlichen und technischen Bedürfnisse im Wirtschaftsleben vorhanden sind, und die andererseits eine gewisse Einsicht oder Übersicht haben, wie die Forschungs- und Entwicklungslandschaft aussieht. Die nötigen Forschungsgelder würden diesen Banken aus den Gewinnen der Unternehmen ohne konkrete Zweckbindung zur Verfügung gestellt und von diesen in einem transparenten Verfahren vergeben.

Sicherlich würde es in so einer Struktur auch KII-Forschung geben. Aber sie würde vermutlich nicht so dominant werden können wie im jetzigen System.

Künstliche Intelligenz: eine Meta-Herausforderung

Wie man sieht, ist KII eine sehr grundlegende Herausforderung, die in allen Bereichen der Gesellschaft ihre vielfältigen Spuren hinterlassen wird und die das Verhältnis zur Natur und zu uns selbst verändern kann – und soll, wenn man den Auguren der KI-Forschung folgt. Dabei schlingen sich die Entwicklungsstränge Digitalisierung, Computerisierung, Internet und KII unauflöslich ineinander und erzeu- gen eine Querschnittsdynamik, die alle Bereiche der Gesellschaft erfasst.

Hier werden sehr ernsthafte Fragen an uns als Menschheit gestellt, aber nicht die, die Trans- und Posthumanisten uns unterjubeln wollen. Das Schielen auf die Superintelligenz, die die Menschheit überflügeln und vernichten wird, verdeckt die eigentlichen Probleme mehr, als dass sie bei der Bewusstwerdung helfen könnte. Es fällt aber andererseits auch schwer, hier einfach die Dreigliederung des sozialen Organismus als Antwort und Heilmittel zu empfehlen. Zu komplex und unübersichtlich scheint die Situation zu sein. Es soll dieser Meta-Komplexität deshalb noch etwas weiter auf den Grund gegangen werden.

Die Entwicklung der Technik hin zur Undurchschaubarkeit

Am 17. Juni 1920 hielt Rudolf Steiner einen Vortrag vor Studenten der Technischen Hochschule Stuttgart. (42) Dabei wies er die Studenten darauf hin, wie die Entwicklung der Technik mit der Entwicklung der Naturwissenschaft zusammenhängt. In einer ersten Phase beschränkte sich die entstehende Naturwis- senschaft aufs Beobachten. In der Astronomie wur- den die mathematischen Instrumente gefunden, um Naturerscheinungen mathematisch zu beschreiben. In einer zweiten Phase ging die wissenschaftliche Bewegung zur „experimentierenden Erfassung der Natur“ über. Angefangen mit Francis Bacon und verfeinert durch Galileo Galilei ging man zum systematischen Experimentieren über. Der Forscher stellt durch das Experiment die Bedingungen des Beobachtens selber her. Der Vorgang wird „in einer ganz anderen Weise durchsichtig als das, was ich in der Natur beobachte“. In der neueren Zeit ist dann „aus dieser experimentierenden Methode die Technik erwachsen“, der Mensch ging von der Beobachtung und theoretischen Nachschaffung zur Schaffung von etwas Neuem über, mit dem er in die Natur eingreifen konnte:

„Wenn ich ein technisches Gebilde habe, das ich herauskonstruiert habe aus der Mathematik, aus der theoretischen Mechanik, da habe ich etwas vor mir, was in sich abgeschlossen ist. Und lebe ich in dem, was im Grunde genommen der Umfang alles technischen Schaffens ist, so habe ich nicht bloß ein Abbild der Naturgesetze vor mir, sondern in dem, was aus den Naturgesetzen heraus zu technischen Gebilden ge- worden ist, steht tatsächlich etwas Neues vor mir da.“

Dabei werden durch die Technik klar durchschaubare Gebilde erschaffen, an denen der Mensch auf eine paradoxe Weise sein geistiges Potenzial erkennen kann:

„Indem die moderne Menschheit dazu gelangt ist, das Technische herausgezogen zu haben aus dem ganzen Umfang des Natürlichen,   (…) sagen wir uns: Jetzt ist es zum ersten Mal, dass wir vor einer Welt stehen, die nun gewissermaßen seelisch durchsichtig ist. (…) Die Welt des Technischen ist so wie ein durchsichtiger Kristall – natürlich seelisch verstanden. Damit ist wirklich eine neue Stufe der geistigen Entwicklung der Menschheit gerade mit der modernen Technik erstiegen. Damit ist etwas anderes eingezogen in die Entwicklungsgeschichte der Menschheit.“

Und etwas weiter:

„Mir hat es immer so geschienen, als ob ein wirklich ehrliches Erleben jenes Bewusstseins, das uns gerade aus der Technik zukommt, uns auffordert (…), dasjenige, was Geistigkeit ist, nun im Innern zu erleben, um so zu dem einen Pol der durchschaubaren Mechanik, der durchschaubaren Chemie dasjenige hinzuzufügen, was nun mit Geistesschau erlangt werden kann, was sich im Geiste vor die Menschen hinstellen kann.“

Es kommt mir so vor, als wären wir heute in der Technikentwicklung einen Schritt weitergegangen. Das „glasklar Durchschaubare“, bei dem rein aus dem Phänomen auf die Funktion geschlossen werden kann, gibt es eigentlich nicht mehr. Mit dem Einzug der digitalen Elektronik und der elektromagnetischen Wellen ist die Anschaulichkeit verloren gegangen. An einem Mikrochip oder einem Radio kann man ohne abstraktes physikalisches und elektrotechnisches Vorwissen deren Funktionsweise nicht mehr ablesen wie an einem mechanischen Webstuhl oder einer Dampfmaschine. Noch abstrakter werden die Verhältnisse durch programmierbare Chips, denen ich von außen nicht mehr ansehe, welche Programme sie geladen haben. Das Gerät bleibt in diesem Fall technisch immer gleich, verändert aber je nach geladenem Programm seine Funktion.

Durch die Vernetzung heutiger Computergerätschaften über das Internet werden weitere Un- durchschaubarkeiten erzeugt. Zum Beispiel „altern“ Computerprogramme einfach dadurch, dass bessere Programmversionen über das Internet verteilt werden, sodass nach einer relativ kurzen Zeit von ein oder zwei Jahren Fehlfunktionen auftreten können, die durch fehlende Updates verursacht sind, während Computer, die nicht mit dem Internet verbunden sind, jahrelang mit alter Software betrieben werden können.

Die KII treibt diese Entwicklung in die Undurchschau- barkeit weiter voran, indem die optimale Konfigura- tion der Maschine durch den Trainingsprozess in der Maschine selbst passiert. Das „Programmieren“ einer KII-Maschine wird zu einem rein empirisch-pragmatischen Vorgang, von dem ich nicht genau sagen kann, wie er sich am Ende in der Wirklichkeit bewährt. Ein klassisches Computerprogramm ist eine logisch durchstrukturierte Handlungsanweisung, von der immer gesagt werden kann, was sie bei welchem Input an Output erzeugt. Dieser strikte Zusammenhang geht bei KII-Geräten ein Stück weit verloren.

Diese Entwicklung geht einher mit der schon oben beschriebenen wissenschaftlichen Modellbildung. Der wissenschaftliche Pragmatismus legt heute kei- nen Wert mehr darauf, Wirklichkeit zu erkennen, sondern die Modelle werden solange an empirische Daten angepasst, bis sie einigermaßen genau die Wirklichkeit abbilden. Das ist ein der KII-Programmierung ziemlich analoger Vorgang.

Der Sinn der Maschine ist ihr Zweck

In dieser Perspektive ist die Ent wicklung einer „starken KI“ und das Aufkommen des Transhumanismus eine naheliegende nächste Etappe in der Technikentwicklung. Aber in der Perspektive der hier vorgetragenen Kritik wäre dies auch eine

Entwicklung hin zu noch mehr äußerlicher Entkopplung zwischen Input und Output. Die „stärkste KI“ – und zugleich die menschenähnlichste! – wäre die, bei der es überhaupt keinen äußerlich ableitbaren Determinismus zwischen Input und Output mehr gäbe, sondern wo die Maschine diesen Zusammenhang selbst erzeugte und nach ihren eigenen Maßstäben veränderte. Sozusagen eine „freie Maschinlichkeit“.

Kann der Mensch technisch-äußerlich etwas er- schaffen, das er menschlich-innerlich noch gar nicht vollständig verstanden, geschweige denn realisiert hat? Hier wird der oben von Steiner statuierte Zu- sammenhang „glasklar durchschaute Natur ermöglicht glasklar durchschaubare technische Geräte“ in ein blödsinniges „undurchschaute Freiheitsnatur ermöglicht undurchschaubare (pseudofreie) Maschi- nentechnik“ weitergetrieben. Welchen Sinn sollte dies haben?

Hier ist Kai Ehlers unbedingt zuzustimmen, der die Frage stellt: „Kann und darf die ‚intelligente‘ Maschine von ihrer Bindung an begrenzte Zwecke gelöst werden, wie es die Transhumanisten anstreben?“ Seine Antwort ist: „Nein, die Bindung an einen Zweck gibt der Maschine erst ihren Sinn. Ihr Sinn liegt darin, dem Menschen die Möglichkeit zu geben, seine eigene Zweckfixierung zu überwinden und seinen Freiheitsraum zu erweitern. Eine Verselbständigung der Maschine würde den Menschen in die Passivität und Ohnmacht drücken.“ (43)

Zugleich, möchte ich ergänzen, hat die „intelligente“ Maschine etwas Hypnotisches und lenkt die Suche nach dem Geistigen auf die Maschinenentwicklung. Statt der glasklar durchschaubaren Gerätschaft, die die Geistessuche des Menschen auf sein Inneres zu- rückwirft, wie Steiner es für die Zeit vor 100 Jahren noch beschreiben konnte, wird der Geist mehr und mehr in der Maschine selber gesucht.

Aus dieser Perspektive ist die Entwicklung einer grundsätzlich undurchschaubaren Technik ein Irrweg, dessen Sinn eigentlich nur darin bestehen kann, diese Zusammenhänge zu erkennen, das Hypnotische dieser Entwicklung zu durchschauen und die Technikentwicklung zurückzulenken in ein menschlich-menschheitlich verträgliches Gebiet. Zu gleicher Zeit gilt es, die innere Seite des Mensch- seins stärker in den Blick zu bekommen und zu kultivieren in Richtung auf eine selbstbestimmte moralische Weiterentwicklung des Einzelnen in Verbundenheit mit der ganzen Menschheit und allen anderen Wesen.

Kulturepochen – Bewusstseinssprünge

Um am Ende dieser Untersuchung noch die Frage zu bewegen, in welchem Rahmen die Suche nach einer „post-smarten“ Technik stattfinden müsste, möchte ich noch etwas weiter ausholen, um den disruptiven Charakter zu verdeutlichen, den die unreflektierte und ungebremste Entwicklung hin zu KII-Technologien annehmen könnte. Zugleich wird dadurch die kulturgeschichtliche Dimension des eventuell vor uns liegenden kulturellen Umbruchs deutlich werden.

Die Kulturtechnik der flächigen Repräsentation

Vor etwa 5000 Jahren fand im Bereich des Fruchtbaren Halbmondes ein Kultursprung statt: die Ackerbau treibenden Stämme in Mesopotamien formten das Reich der Sumerer. Weitere sollten folgen: Babylonien, Ägypten, Rom usw. Wie war es den ganz aus einer naturhaften Religiosität handelnden Bauernstämmen möglich, plötzlich solche sozialen Großorganismen zu bilden? Man darf annehmen, dass hier ein Sprung in der Bewusstseinsentwicklung vorgegangen ist, der eine deutlich abstraktere soziale Organisationsstruktur möglich machte. Und ich denke, dass ein Aspekt dieser Bewusstseinsentwicklung die Erfindung der Schriftzeichen gewesen ist.

Wir sind heute permanent umgeben von Schrift- und Symbolzeichen aller Art. Wir können uns nur schwer eine Zeit vorstellen, in der es das noch nicht gab. Welcher Bewusstseinsschritt wurde damals gemacht? Die Kulturphilosophin Sybille Krämer nennt dies die Erfindung der „Kulturtechnik der Ver- flachung“.44 Denn das Entscheidende ist hier, dass ein Ausschnitt der Welt in einer symbolhaften Weise auf einer Fläche repräsentiert wird und „dass das Bewegen auf Oberflächen, dass die Erfindung von be- bilderten und beschrifteten Flächen ein Motor geistiger Arbeit und kultureller Entwicklung ist, der seinesgleichen sucht. (…) Denken Sie einen Augenblick nach: Gibt es ein Fußballspiel ohne Ticketverkauf? Gibt es Orientierung im fremden Terrain ohne Benutzung von Karten? Können Sie Zugfahren ohne Ticket? Ist Wissen- schaft denkbar ohne Graphen, Tabellen, Schriften und Diagrammen aller Art? Was ist mit der Kunst in dem Moment, wo die Musik die Musiknotation gebraucht oder das Ballett die Choreographie kennt? Im Grunde genommen zieht sich von der Höhlenmalerei über die Hauttätowierung über die Erfindung von Bildern, Schriften, Ornamenten, Graphen, Diagrammen aller Art bis hin zum Computerisieren und zum Smartphone eine Entwicklung, in der wie ein roter Faden sich etwas durchsetzt, das ich die Kulturtechnik der Verflachung nennen würde.“ (45)

Nun stellt sich die Frage, was dadurch gewonnen wird. Wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass die Menschen in vergangenen Zeiten nicht dasselbe Bewusstsein hatten wie wir, und wenn wir uns klar machen, dass ihr Geist in alten Zeiten in weitaus stärkerer Weise eingesponnen war in das Erleben von Naturwesen und Gottheiten aller Art, dann wird vielleicht deutlich, was damals vorgegangen sein muss. Sybille Krämer:

„Die Erfindung einer Fläche, die beschriftet und bebil- dert ist, schafft mir den Sonderraum einer zweidimen- sionalen Räumlichkeit, in der ich wie in der Vogelflug- perspektive etwas überblicken und vor allen Dingen, in der ich auch manipulieren und etwas entwerfen kann. (…) Die These ist, dass mit der Kulturtechnik der Verflachung (…) ein zweidimensionaler Raum der Kontrollierbarkeit, man kann auch sagen: der Macht, geschaffen wird, der es möglich macht, Handlungen auszuführen,(…) von solcher Komplexität, wie sie ohne Gebrauch dieser Kulturtechnik der Verflachung nicht möglich wären.“(46)

Die Entwicklung digitaler Oberflächen ist einerseits eine Weiterentwicklung der Kulturtechnik der flächigen Repräsentation. Aber andererseits gibt es Anzeichen dafür, dass sie diese Kulturtechnik langsam, aber sicher untergräbt. Was sind die Anzeichen dafür?

  1. Der Umgang mit Schrift verändert sich. Schriftliches erhält durch die Elektronisierung einen flüchtigeren Charakter, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Es ist schneller geschrieben und deshalb oft weniger fundiert und durchdacht, es ist auch schneller wieder gelöscht.
  2. Durch die Explosion an schriftlichen bzw. zeichenhaften Äußerungen im digitalen Raum kommt es zu einer Art Inflation der Zeichen und Bilder, die den Wert des einzelnen Zeichens deutlich herabmindert.
  3. Immersive Technologien wie 3D-Brillen, Holographie, virtuelle Realität oder auch die immer mehr um sich greifende Sitte, mit vielen Bildschirmen und verschiedenen Geräten gleichzeitig zu arbeiten, erzeugen zweieinhalb- bis dreidimensionale Räume, in denen es wieder ein „Hinten“ gibt. Die flächige Repräsentation als „Raum der Planbarkeit und Kontrollierbarkeit“ wird mehr und mehr überschwemmt und in Richtung von Drei- und Mehrdimensionalität aufgebrochen.

Vielleicht kann KII-Technik verstanden werden als ein Versuch, die digitale Komplexität mit Hilfe des Digitalen selber zu reduzieren auf ein Maß, das mit „flächiger Repräsentation“ wieder vereinbar ist. Wenn ich mit der Informationsflut in meinen Nachrichtenkanälen nicht mehr klar komme, sorgt eine KII dafür, dass die Informationen gefiltert werden. Was aber, wenn ich nicht wirklich die Kontrolle über die Algorithmen habe? Das wäre vergleichbar damit, dass die Keilschriftzeichen in den sumerischen Tontafeln sich von alleine verändern würden. Wir würden dann den Ast absägen, auf dem wir seit 5000 Jahren sitzen!

„Transition society“: Sind wir bereit für die „Große Transformation“?

Barg die Digitalisierung noch die Herausforderung, dass die Realität digital dekonstruiert und durch uns in sinnvoller und verantwortlicher Weise neu zusammengesetzt werden musste, so bringt KII die zusätzliche Herausforderung, dass die Neuzusammensetzung selber durch die Algorithmen erfolgt und deshalb von einem darüber liegenden Bewusstseinsniveau aus kontrolliert werden muss. Ist jetzt die Zeit, das zweidimensionale dualistische Verstandesbewusstsein zu verlassen und aufzusteigen zu einem mehrdimensionalen, fluiden, vernetzten, integralen und imaginativen Bewusstsein, von dem aus sich ein ganz anderer Zugriff auf die Gesamtheit aus Landschaft, Natur, Kultur, Technik und Menschheit ergäbe?

Es ist gefühlt klar, dass wir an der Schwelle eines Kultursprunges stehen. Bloß: Ist dieser Sprung ein rein technologischer Sprung? Oder ist die KI-Disruption Ablenkung und Surrogat für das, was eigentlich ansteht: ein Sprung in unseren sozialen Fähigkeiten hin zu einer assoziativen, kooperativen, das „gute Leben für alle Menschen” fördernden Gesellschaft, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“? (47)

Was kann Orientierung geben in diesen Zeiten, in denen so viele Gewitter am Horizont drohen, in denen aber auch so viel kooperative Kreativität und guter Wille, wie niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit, sich einen Weg zu bahnen sucht? Es geht in den kommenden Jahrzehnten of fenbar nicht mehr nur um die Transformation im Kleinen und Lokalen, um „Transition Town“. Es geht um „Transition Society“, die „Große Transformation“. Diese wird nicht nur strukturelle Änderungen im Bereich von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik verlangen, sondern auch eine neue Konfiguration von Denken, Herz und Handeln bei einer ausreichend großen Anzahl von Menschen.

Ein Dreigliederungskompass

Was kann der Impuls für die Dreigliederung des sozialen Organismus hierzu beitragen? Diese Frage sollte von nun an im Mittelpunkt stehen. Wir haben viele Konzepte für alternative Um- gangsweisen mit Geld, Eigentum, Land, Unter- nehmen, Arbeit, Demokratie und Kultur. Aber vor allem unbewegliche Begriffe, Besserwisserei, verfestigte Strukturen und das Beantworten nicht gestellter Fragen verhindern gegenwärtig, das dies in der breiteren Öffentlichkeit bemerkt wird. Es kommt jetzt darauf an, die eigene Botschaft so zu formulieren, dass sie direkt die Menschen anspricht, denen die Zukunft der Menschheit ein Herzensanliegen ist und dass sie dies als Stärkung erleben.

Die alte Parole „Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im Rechtsleben, Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben“, die für die Situation nach dem Ersten Weltkrieg unglaublich passend war, aber heute oft als starr und hölzern erlebt wird, müsste vielleicht eine Metamorphose durchmachen, um uns heutigen eine unmittelbare Orientierung sein zu können. Anstatt die Struktursysteme und die in ihnen geltenden Normvorstellungen in den Mittelpunkt zu stellen, könnte heute das Individuum in seinen konkreten sozialen Beziehungen direkt angesprochen werden. Beispielsweise:

„Wir streben danach, unsere Aktivitäten in den wirtschaftlichen und auf Versorgung ausgerichteten Bereichen auf das Wohl aller unter Einschluss der Natur auszurichten („Nachhaltigkeit“); 

in den Bereichen der Verhandlung, Verwaltung und Gesetzgebung auf die möglichst breite Beteiligung aller Betroffenen hinzuwirken („Teilhabe“);

in den geistig/kulturellen/forschenden Bereichen die Initiative und Kreativität jedes Einzelnen zu respektieren und zu fördern („Vielfalt“).

Der Zusammenhang zur Dreigliederung des sozialen Organismus ist leicht erkennbar, aber die Formulie rung geht von tätigen und sich zusammenschließen- den Individuen aus. (48)

Ich würde mir wünschen, dass wir experimenteller werden und die menschliche Grundhaltung der Verbundenheit deutlicher ausdrücken. Aus einer solchen Grundhaltung könnte der Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus in zeitgemäßer Form neu belebt werden.

Zugleich könnte er zu einem menschlich-sozialen Referenzpunkt werden, auf den hin sich soziale Bewegungen weltweit orientieren könnten. Denn wie sonst ließen sich vor dem Hintergrund des heraufziehenden Techno-Tsunamis die vielen Bestrebungen nach einer Besserung der sozialen Verhältnisse auf diesem schönen Planeten, die aber auch immer wieder in Einseitigkeiten zu verfallen drohen, in ein Bild packen, was könnte ihnen eine gemeinsame Richtung und Orientierung geben, ohne dass neue Spaltungen und Trennungen das Opus Magnum der „Großen Transformation“ verhindern?

Aus dieser Persepktive muss KII sich noch stark wandeln, wenn sie bei den Bestrebungen in Richtung Stärkung von Vielfalt, Teilhabe und Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle spielen soll.

Stefan Padberg

Erschienen in: Sozialimpulse 1/2020

Stefan Padberg, geboren 1959, ist in Freiburg (Breisgau) aufgewachsen und hat dort die Basisbewegungen der 1970er und frühen 1980er Jahre mitgemacht. Er studierte in Hamburg Informationstechnik und arbeitete als Ingenieur. Seit 2012 ist er freiberuflich als Webprogrammierer tätig. Die Finanzkrise brachte ihn 2007 dazu, sich verstärkt mit sozialökonomischen Themen und mit der Dreigliederungsidee zu beschäftigen. In diesem Zuge hat er beim Institut für soziale Gegenwartsfragen den Studiengang Sozialentwicklung mitgemacht und engagiert sich im Ausbau des Instituts und der Initiative Netzwerk Dreigliederung. Stefan Padberg ist außerdem Leiter des Arbeitskreises Europa bei Mehr Demokratie e.V.

Fußnoten Teil 5

40)Dem Vernehmen nach nutzt BlackRock mit dem Datenanalysesystem Aladdin ein solche Software, die auch mit KII-Unterstützung läuft. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Aladdin_(BlackRock), abgerufen 2.3.2020. Diese Software soll entscheidend zum Erfolg der Anlagestrategien von BlackRock beigetragen haben.

41)  Vgl.    „Alphabet’s    DeepMind    Takes    on    Billion-Dollar    Debt and Loses $572 Million“, https://www.bloomberg.com/news/ar- ticles/2019-08-07/alphabet-s-deepmind-takes-on-billion-dollar-debt- as-loss-spirals, abgerufen am 1.3.2020

42)  „Geisteswissenschaft, Naturwissenschaft, Technik“, GA 73a

43)   Kai Ehlers, Transhumanismus – Provokation, Wahn oder Verbrechen?“, in Sozialimpulse 4/2019, S. 30

44) Da mir das Wort „Verflachung“ in diesem Zusammenhang zu mehrdeutig ist, bevorzuge ich die Formulierung „flächige Repräsentation“.

45)   Vortrag von Sybille Krämer auf der re:publica19, „Digitalität und die Kulturtechnik der Verflachung, https://19.re-publica.com/de/session/ digitalitat-kulturtechnik-verflachung, abgerufen am 2.3.2020

46)   Siehe Fußnote 37.

47)   Karl Marx/Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Par- tei“, MEW 4, S. 482

48)   Dieser ganz und gar skizzenhafte und ungenügende Vorschlag einesDreigliederungskompass‘ ist   nachempfunden dem „Normativen Kompass für die Große Transformation zur Nachhaltigkeit in ei-ner   digitalisierten Gesellschaft“, die   der   „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung“ unlängst veröffentlicht hat: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), „Unsere gemeinsame digitale Zukunft (Hauptgutachten)“, S. 3, Zu- sammenfassung im Internet unter: https://www.wbgu.de/fileadmin/ user_upload/wbgu/publikationen/hauptgutachten/hg2019/pdf/ WBGU_HGD2019_Z.pdf, abgerufen am 12.3.2020. Dass der WBGU ein Gleichgewicht zwischen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, Teilhabe und Vielfalt für erforderlich hält, ist ein weiteres Indiz dafür, dass die soziale Dreigliederung „in den Tatsachen“ lebt.