Regeneration am Urbild – Über Sterbeprozesse in der Natur

Unsere Beziehung zum Tod ist schwieriger geworden. Was früher Teil des Lebens auf jedem Bauernhof, in jedem Garten war, ist jetzt ein Prozess, den wir ungern sehen wollen. Sogar absterbende Pflanzen wollen wir nicht sehen.

Die Menschen ‹putzen› im Herbst ihren Garten. Sie räumen alle toten Pflanzen weg. Warum ist uns das Anschauen von absterbenden Pflanzen schwerer zu ertragen als das von wachsenden? Ist es, weil wir nur die physische Seite sehen? Rudolf Steiner schlägt eine Übung vor, wachsende und absterbende Pflanzen anzuschauen. Wir können dabei erleben, dass es neben dem physischen Aspekt noch einen subtileren Eindruck gibt, den man spüren, sogar übersinnlich wahrnehmen kann.

Jahreslauf

Im vor Leben strotzenden Frühling kann man den Eindruck haben, dass sich die Natur füllt mit etwas, was als Potenzial schon da war. Von dieser Fülle kann man sich sogar überwältigt fühlen. Im Sommer werden alle Blätter sattgrün, dichter, irdischer, fester. Man kann förmlich erleben, wie die Pflanzen in die physische Form und Substanz sterben.

Auf der anderen Seite ist der erste Eindruck im Herbst ein Gefühl der Leere, des Todes. Die Blätter der Bäume fallen in einer Farbenpracht. Die Pflanzen vergehen und werden bräunlich oder beige. Aber es gibt auch einen ergänzenden Aspekt, den man zum Beispiel als ein Gefühl der Befreiung erleben kann, besonders wenn der Wind die abgestorbenen Blätter der Bäume wegfegt. Was in der Gestalt wie ‹eingesperrt› war, wird befreit und ein neues geistiges Potenzial bildet sich.

Wo ist dieses Potenzial zu finden? Besonders im Samen, dem Einzigen, was von einjährigen Pflanzen übrig bleibt. Aber auch in den Knospen der Bäume, die sich schon im Sommer gebildet haben.

Bei einjährigen Pflanzen stirbt die ganze Substanz der Pflanze ab und wird in Humus verwandelt, der eine lebendige Grundlage für neue Pflanzen bildet. Es bleibt nur eine winzige Quantität von Substanz: der Same, der von außen gesehen auch tot zu sein scheint. Äußerlich geschieht nichts, bis er eines Tages wieder keimt. Aber was ist innerlich geschehen? Was geschieht, wenn wir den Eindruck dieser Befreiung der Kräfte im Herbst haben?

Ganz innerlich

Im Samen und auch in der Knospe am Baum schließt sich die Pflanze von allen äußeren Einflüssen der Elemente, der Umgebung ab. Aber sie öffnet sich einer geistigen Umgebung. Steiner beschreibt es im ‹Landwirtschaftlichen Kurs›: «Denn der Organismus geht eben nicht auf die Art aus den Samen hervor, dass sich dasjenige, was sich als Samen gebildet hat, aus der Mutterpflanze oder dem Muttertier nur fortsetzt in demjenigen, was als Kinderpflanze oder Kindertier entsteht. […] Wahr ist vielmehr, dass, wenn nun dieses Komplizierte des Aufbauens aufs Höchste getrieben ist, so zerfällt dies und man hat zuletzt in demjenigen, was erst im Bereiche des Irdischen zu größter Kompliziertheit getrieben worden ist, ein kleines Chaos. […] dann beginnt das ganze umliegende Weltenall auf den Samen zu wirken und drückt sich in ihm ab und baut aus dem kleinen Chaos das auf, was von allen Seiten durch die Wirkungen aus dem Weltenall in ihm aufgebaut werden kann.» (GA 327)

Eigentlich wird in diesem Samenstadium die Pflanze vom ganzen Kosmos regeneriert. Dies kann nur geschehen, wenn die Pflanze sich von der äußeren Umgebung trennt, wenn sie fast ganz abstirbt und dabei alle Beziehungen, die sie seit dem Keimen mit den Elementen und Wesen aufgebaut hatte, verliert.

„Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben.“

Johann Wolfgang von Goethe

Die Biologen und Biologinnen wissen seit Langem, dass dieses Stadium des Samens für die Gesundheit der Pflanzen wesentlich ist. Pflanzen, die nur vegetativ vermehrt werden, wie Kartoffeln, Erdbeeren, Obstbäume und Reben, die nicht durch dieses wesentliche Stadium des Samens gehen, degenerieren in der Zeit. Sie sammeln ‹Schlacken› des Lebens an: Virosen, Pilzkrankheiten. Es wird keine neue Pflanze gebildet, sondern es geschieht nur ein Abnutzen der Pflanze, die sich verschieden lang im Raum und in der Zeit ausdehnt.

Regeneration

Der Tod gibt jeder Pflanzenart die Möglichkeit, sich an ihrem Urbild zu regenerieren und so ein neues gesundes Leben zu entwickeln. Es ist genauso, wie wenn wir eine Pause im Leben brauchen, um uns auf das Wesentliche zu besinnen. Auf Französisch sagt man sehr treffend: Ich mache den Punkt, eine Bestandsaufnahme (je fais le point). Dass heißt, dass ich mich für eine Zeit ganz von den äußeren aktuellen Bedingungen freimache, um mich auf meinen weiteren Lebensweg zu besinnen. Wer bin ich? Wo will ich hin?

Das bedeutet, wie bei der Pflanze im Winter, die äußerlich in eine Ruhe kommt, eigentlich die höchste innere Wachheit und Erneuerung der geistigen Orientierung. Interessanterweise hat die Covid-19-Krise mit dem Lockdown viele von uns in diese Situation gebracht: zur Ruhe zu kommen und das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Die Pflanze kann uns da eine wunderbare Lehrerin sein.

Jean-Michel Florin

Jean Michel Florin studierte Landwirtschaft und Naturschutz (BTS Protection de la Nature) und ist seit 1988 in der Sektion für Landwirtschaft tätig, der Co-Leitung er seit 2010 innehat. Er koordiniert die biologisch-dynamische Landwirtschaft in Frankreich und publiziert zu landwirtschaftlichen und sozialen Fragestellungen und ist Referent zur goetheanistischen Botanik, Heilpflanzen, Landschaft, Weinbau und sozialer Dreigliederung.

Erschienen in: Das Goetheanum – Wochenschrift für Anthroposophie Nr.21, 21 Mai 2021