In die Wüste, aufs Meer, durchs Feuer

Michael kämpft in der Offenbarung des Johannes mit dem Drachen, wie Apoll, der die Pythia bezwingt, wie der Mithras-Sonnengott, der den Stier überwindet. Darin spiegelt sich die Stärke dieser Geister.

In den Westfassaden der Kathedralen trägt er Schwert und Waage in den Händen, Instrumente des Trennens und Vergleichens, des Urteils  –  im Bild des Schwertes, wenn der Wille hinzukommt, im Bild der Waage, wenn das Gefühl zum Denken tritt. So kommt zur Stärke Michaels die Weisheit. Wenn er sich dem Drachen stellt, steht er in der Sonne. So ist er ein Engel der Sonne  –  ein Geist der Güte. Stärke, Weisheit und Güte sind seine drei Tugenden. Sich ihm zu nähern, heißt, sich um diese Tugenden zu bemühen, heißt, stark, klug und gütig werden zu wollen, heißt, ja zu sagen, dass diese Tugenden sich zu widersprechen scheinen. Michael schaut nicht auf sein Gegenüber, nicht auf Mensch oder Drache, sondern er blickt darüber hinweg. Das ist der Schlüssel. Wer schaut, zeigt die Richtung. Es geht weniger um ein Sein als um ein Werden. Daran erinnert auch sein Name ‹Michael›, als einziger Erzengel ist dieser Name eine Frage: ‹Wer ist wie Gott?› Mit einer Frage ist ein Weg, ein Weg, der sich dort öffnet, wo man sich aufmacht, klug, stark und gütig zu werden. Wie gelingt das? Wir wird man klug, stark und liebevoll? «Am Widerstand gewinne», dichtet Rudolf Steiner in seinen ‹Zwölf Stimmungen›. Nicht anders als im Sport, wo Muskeln und Sehnen stark werden, weil sie beansprucht werden, ist es mit der Seele. Seit Jahrtausenden erzählen sich alle Kulturen Geschichten, denn in ihnen ist die Rede davon, wie die Seele wächst  –  wächst, weil sie sich auf eine Reise macht, in der sie Neuem begegnet und deshalb selbst auch etwas Neues in sich hervorbringen muss. Der Zauber der Geschichte ist, dass man als Hörer, als Leserin mitreist, mitübt, ohne gefährdet zu sein. Geschichten sind Trockenübungen der Seele. Für die michaelischen Tugenden Klugheit, Stärke und Güte sind es die immer wiederkehrenden mythischen Reisen aufs Meer, durchs Feuer und in die Wüste. Dorthin wird man geschickt, dorthin bricht man auf, wenn die Seele wachsen möchte.

In die Wüste

Die Sonnenfinsternis in der Mongolei 2008 führte mich mit einer Studienreisegruppe durch die Wüste Gobi. Welch ein Bild, als die Reisenden in dieser Ödnis über der Blüte eines Edelweiß gebeugt standen. Dort, wo die Natur so spärlich ist, die Umgebung so dem Leben entgegensteht, da wird so ein kleines Pflänzchen zum Wunder. In der Wüste wird das Große klein und das Kleine groß. ‹Die Wüste in dir› titelt der Weltreisende Reinhold Messner sein Buch über seine Gobi-Durchwanderung. Damit meint er, dass heute jede und jeder diese Leere, die Wüste, kenne, als innere Erfahrung kenne. Dabei ist es kein Zufall, dass alle Religionen in der Wüste ihren Ausgang haben. Ob Buddha, Mohammed oder Jesus: in der Wüste zeigte sich, sprach der Gott. Dort im Nichts, in der Einsamkeit übt man die Güte. Wo nichts ‹da› ist, lernt man zu geben. Dass sich jährlich 250.000 Menschen auf die Pilgerreise nach Compostela machen, zeigt, wie groß die Sehnsucht nach Stille, nach Leere ist. Ein Freund hat eine solche Wanderung durch die französischen Alpen unternommen, einsam durch die menschenleere karge Bergwelt. Man komme nicht auf besondere Einsichten, aber, so sein Resümee, die Seele reinige sich, die Sinne steigerten sich.

Durchs Feuer

Und wie wird man stark? Mit michaelischer Stärke ist nun eine Kraft gemeint, die zu verwandeln vermag, die sich nicht auf der bestehenden Spur entfaltet, sondern neue Wege sucht. Eine Kraft, die zu verwandeln vermag, die Verwandlung von innen hervorbringt, wächst durch Verwandlung von außen  –  das ist ein Feuerprozess. Die amerikanische Naturschutzaktivistin Julia Hill, die zwei Jahre auf einem 1000-jährigen Zedernbaum ausharrte, trotzte Sturm und Wind und schreibt: «Die ganze Natur hat auf mich einschlagen müssen, damit ich zu der werden konnte, die ich sein sollte. Ich bin der Beweis der Metamorphose.» Um den Willen aus seiner gewohnten Spur zu befreien und zu entfachen, ist dieses ‹Stirb und Werde›, der Weg durchs Feuer, die große Schule.

Aufs Meer

Was für eine Schilderung: Da geht ein Ehepaar an der Westseite der Insel Iona in Schottland im Meer schwimmen und mit einem Mal sind sie von Nebel umgeben. Die Frau findet wieder zum Strand, der Mann nicht. Da ruft sie in die Nebelwand seinen Namen. Jetzt weiß er, wohin er schwimmen muss! Doch auf die Erleichterung folgt Schrecken. Denn er hört seinen Namen aus verschiedenen Richtungen. Manchmal ist ihm, als käme der Ruf seiner Frau von oben. Er entschließt sich, noch zwei-, dreimal auf den Ruf zu hören und dann in sich die Richtung zu finden. So findet er tatsächlich wieder Grund unter den Füßen. ‹Wasserprobe› nannte man es in der Antike, so verloren zu sein, wenn man allein in sich die Richtung bestimmen kann, weil kein äußerer Hinweis mehr existiert. Das Meer ist hier das Urbild, man weiß nicht, wo man ist, und man weiß nicht, in welche Richtung man sich bewegt. «Sie gingen durch einen tiefen Wald», so heißt es in den Märchen, wenn jemand durch solch eine Wasserprobe geht.

‹Die Tugend der Orientierungslosigkeit› titelten die Autoren Christoph Clermont und Johannes Goebel vor 20 Jahren ihre Studie über die heutige Gesellschaft, in der Tradition und bürgerliche Meinung weder das Ziel noch den nächsten Schritt bestimmen, sondern jeder selbst seinen Kompass baut.

Aufs Meer, durchs Feuer und in die Wüste, das sind die drei mythischen Wanderungen, auf denen die Seele sich selbst Weisheit, Kraft und Güte schafft. Vermutlich ist das Wichtige, dass man die Tugenden selbst hervorbringt.

Wolfgang Held

Erschienen in: Das Goetheanum – Wochenschrift für Anthroposophie Nr. 39-40, 30. Sept. 2022