Humanität nach Auschwitz?

Videovortrag von Peter Selg und Krzysztof Antoczyk in der Reihe ‹Leben und Gesellschaft im Umbruch›.

Weil der Genozid nicht zu Ende sei, sondern an vielen Orten der Erde weiter wüte, ist Auschwitz kein Ort der Vergangenheit. So eröffnete Peter Selg den Videovortrag, zu dem er den Historiker Krzysztof Antończyk eingeladen hatte. Der polnische Wissenschaftler beschrieb die kaum zu fassende Tötungsmaschinerie, der 900.000 Menschen aus 30 Ländern zum Opfer fielen. Von der unfassbaren Zahl wechselte er zum einzelnen Schicksal, wie dem von Stanislaw Ryniak. Er wurde 1915 geboren und war mit der Nummer ‹31› der erste nicht kriminelle Insasse in Auschwitz.

Er überlebte und Antończyk konnte ihn besuchen und seine Geschichte als junger inhaftierter Schüler erfahren. Zu Wolf Zelmanowicz führte eine Gravur auf einem Ziegelstein. Er hatte als Schüler in der Maurerschule in Auschwitz gearbeitet und ebenfalls überlebt. Er selbst arbeite in Auschwitz, so Antończyk, weil dieser Schreckensort der Menschheit sich heute zu einem Ort der Menschlichkeit verwandeln könne. Deshalb müsse jeder Mensch diesen größten Friedhof der Menschheit und Mahnort einer abgründigen Biopolitik kennen, so Peter Selg.

Der materialistische Ansatz der Medizinausbildung im 20. Jahrhundert habe dabei begünstigt, dass so viele Mediziner Teil des Vernichtungssystems wurden. Selg berichtete von seinen Exkursionen mit Studierenden an diesen Ort. Der Wille zu heilen, das sei dabei die stärkste Empfindung der werdenden Psychologinnen und Ärzte nach dem Besuch dieses «Ortes des Abgrundes». Die Identität zu vernichten, sei damals über das Töten hinaus der Wille gewesen. Umso berührender ist es, dass Historiker wie Antończyk alles daran setzen, die Identitäten der Opfer zu erfahren, ihnen durch Kenntnis der Biografien wieder ihre Identität zu geben. Die Identität von über fünf Millionen Opfern konnte so ermittelt werden. Peter Selg beschrieb am Schluss, dass Menschen wie Prof. Lugoborski, der vier Jahre in Auschwitz inhaftiert war und überlebte, heute Studierenden diesen Schreckensort nahebringen. Das verwandle diesen Ort von einem Ort des Todes zu einem Ort des Lernens und neuen Lebens.

Wolfgang Held

Erschienen in: Das Goetheanum – Wochenschrift für Anthroposophie Nr. 36, 3. September 2022

Der Vortrag ist online zu sehen unter: https://goetheanum.tv/search?search=Auschwitz