Heilpädagogik und Kindereuthanasie

Zwei Ärzte im ‹Dritten Reich›. Der eine liebt die Kinder, auch die behinderten, und schaut immer auf das Werden. Der andere sieht Euthanasie als ‹Liebestat›, weil er zu sentimental ist. Karl König und Werner Catel in einer Gegenüberstellung von Peter Selg. Der hier abgedruckte Text ist das Nachwort zum Buch.

Martin Buber hat den Ausdruck der ‹Vergegnung› geprägt  –  eine menschliche Begegnung und Beziehung, der das Wesentliche im Du nicht zugänglich wird. Davon handelt die vorliegende Schrift, auf mehreren Ebenen. Zunächst in der Begegnung des jüdischen, gerade noch rechtzeitig emigrierten Wiener Kinderarztes und heilpädagogischen Pioniers Karl König mit dem charismatischen, berühmten Ordinarius der Kinderheilkunde Werner Catel, der im Dritten Reich Karriere machte, nicht zuletzt mit der Tötung von ‹behinderten› Kindern, die er wie viele andere Täter als minderwertig, ja als ‹massa carnis› betrachtete. Catel wird von vielen als ‹weich, gefühlvoll› und ausgesprochen gewinnend beschrieben. Wie kann ein so gebildeter, gefühlvoller Mensch zugleich eine mit aller Härte und Konsequenz betriebene wissenschaftliche Karriere machen, sich engagiert an der «Auslöschung lebensunwerten [menschlichen] Lebens» beteiligen und strategisch bis zuletzt an der publizistischen Selbstinszenierung seiner Biografie arbeiten? Und wie kann zunächst ein ebenso gebildeter, intensiv beobachtender und der Arbeit mit assistenzbedürftigen Kindern hingegebener Arzt wie Karl König diese Seite des anderen zunächst verkennen?

Einen ersten Schlüssel findet die so sensible hermeneutische Darstellung Peter Selgs gerade in Catels Emotionalität, und dabei wird die Aktualität dieses Buches deutlich: Dem 16-jährigen Werner Catel enthüllt sich seine eigenhändige Verabreichung einer tödlichen Opiatdosis an seine Großmutter als arzneiliche Liebestat, und zeitlebens wird er diese Art der Sterbehilfe mit dem Paracelsus-Zitat verbrämen, dass der höchste Grund der Arzney die Liebe sei. Begegnung oder Vergegnung? Reifes Mitgefühl oder emotionaler Selbstbezug eines Adoleszenten? Das Hauptmotiv des Pädiaters Catel zur Zeit des Dritten Reiches, aber auch noch in Publikationen der 1960er-Jahre wird die ‹Erlösung› derjenigen Kinder werden, die in seiner Wahrnehmung nur eine Fleischmasse, ‹massa carnis›, darstellen, denen er im Stil seiner Zeit selbst die Schmerzwahrnehmung abspricht, weil dazu menschliches Bewusstsein gehöre, und der nicht zuletzt die Erlösung der Eltern im Auge hat, die mit ihren missgebildeten Kindern nie glücklich werden könnten. Die adoleszent gebliebene Emotionalität des hochgebildeten Wissenschaftlers enthüllt ihre grausame Rückseite in ihrem durchdringenden, narzisstischen Selbstbezug.

Das Kind, zu dem Werner Catel keinen menschlichen Zugang findet, verliert sein Lebensrecht. Das «tödliche Mitleid» (Klaus Dörner) des späteren Ordinarius ist ein Selbstmitleid, das sich bis in seine späten Lebensjahre als mächtige seelische Triebkraft fortsetzt, im Umgang mit den ersten Enthüllungen über sein Wirken in der Zeit des Nationalsozialismus. Erschütternd arbeitet die vorliegende Schrift heraus, wie sehr Catel in seiner Karriere zugleich seiner eigenen Emotionalität, der politischen Opportunität und seiner Karriereplanung folgt und wie sich dabei seine klassische Bildung, für die gerade das deutsche Bildungsbürgertum weltweit bis 1945 so bewundert wurde, als Überbau der Unmenschlichkeit entpuppt. Dies tritt umso eindrucksvoller in Erscheinung, folgt man in Polarität dazu dem Lebensweg Karl Königs in seiner Authentizität, seinem empathischen Engagement für die Schwächsten der Schwachen.

König ist es in der Begegnung mit Kindern mit Down-Syndrom, mit autistischen Kindern gelungen, was dem Mediziner Catel verborgen blieb: nach dem Du dieser Kinder zu fragen, nach dem Menschenwesen in jedem dieser Kinder, es zu entdecken und praktisch zu fördern. Auch Werner Catel selbst gegenüber gelang es König schließlich, dessen innere Dissoziation zwischen der zugewandt gebildeten Persönlichkeit und dem im reinen Objektdenken medizinisch agierenden und argumentierenden Wissenschaftler und Karrieristen zu erkennen. Ohne seinerseits mit dem Menschen Werner Catel zu brechen.

Vereinseitigte Naturwissenschaft

Der Naturwissenschaftler der Neuzeit fragt nach dem Es, dem Objekt, der ‹Außensicht› im Sinne Catels, und damit stets und untrennbar verbunden danach, was man damit tun kann. Auch die Medizin verdankt diesem Erkenntnisansatz außerordentlich viel. Methodisch aber wurde naturwissenschaftliches Wissen immer weniger ein Beziehungswissen zur Natur  –  die Klimakrise und Pandemien wie Covid-19 belegen es überdeutlich –, sondern ein technisch vermitteltes Herrschaftswissen. Gerade in der Medizin erscheint dieses Motiv legitim in der Ohnmacht gegenüber Krankheit und Verletzungen, jedes Unfallopfer ist dankbar gegenüber den enormen Möglichkeiten heute, lebensbedrohliche Situationen medizinisch zu beherrschen.

Die Ambivalenz eines Herrschaftswissens, das der Frage nach dem Es, nicht nach dem Du entstammt, das wachsende technische Möglichkeiten bei schwindender innerer Beziehung zum Gegenüber generiert, offenbart sich in Agrochemie und Genetik, gegenüber der Maus im Labor wie in der universitär gelehrten und leitliniengerechten Medizin selbst. In den Jahren vor dem Holocaust war Deutschland zur führenden Wissenschaftsnation der Welt geworden. Bis zur Hälfte aller Nobelpreise gingen nach Deutschland. Deutsch war eine führende Wissenschaftssprache, in der auch Werner Catel unablässig publiziert hat. Eben diese Nation hat den vereinseitigten naturwissenschaftlichen Zugang zur Welt und zum Menschen in beispielloser Konsequenz zu einem katastrophalen Ende geführt und noch die Tötung behinderter Kinder mit der gleichen Präzision organisiert wie eine wissenschaftliche Studie. Catel war in beidem erfahren.

Gerade das Bündnis einer unreif-selbstbezogenen Emotionalität mit einem eiskalt machtbezogenen Kalkül wird in seinen möglichen Konsequenzen und seiner fortwährenden Aktualität durch die vorliegende Publikation deutlich. Der Primat der Selbstinszenierung zeigt sich dann daran, dass Catel einerseits abrupt die menschliche Beziehung zu Karl König abbricht, sobald dieser den gedanklichen Kern der Catel’schen Euthanasiegedanken in einer kritischen Rezension ins Bewusstsein hebt  –  und dass er nach Königs Tod versucht, aus dieser Beziehung zu einem prominenten Heilpädagogen (und Opfer des Antisemitismus) Kapital zu schlagen für die eigene Autobiografie.

Neues Gleichgewicht

Karl König war Anthroposoph. Beschränkt man sich darauf, den Fragehorizont der Anthroposophie zu beschreiben, dann fällt auf, dass die Anthroposophie nicht nur nach dem Was, dem Es, fragt, sondern zugleich nach dem Wer, dem Du. Königs ganze Annäherung an assistenzbedürftige Kinder folgt dieser Frage: Wer bist du? Woher kommst du? Und welchen Sinn kann dieses Leben für dich haben? So schreibt er über diese Kinder: «In seiner Erscheinung ist es nur die äußere Hülle eines unendlichen und ewigen geistigen Wesens.» Klarer kann man die Polarität von ‹Hülle› zu dem Begriff der ‹[leeren] Hülsen›, den Hoche und Binding geprägt hatten und der auch das Denken Werner Catels prägte, nicht ausdrücken. Schon in diesen Worten wird deutlich, wie konsequent König den Menschen im Menschen suchte und auch verehrte, denn diese Suchhaltung ist ihm zugleich eine wissenschaftliche und eine moralische. In der Suche nach dem Du, in einer solchen hermeneutischen Haltung sind beide Aspekte nicht zu trennen, die Frage, wer der andere wirklich ist und was wirklich gut für ihn ist. Im Verfolgen dieser Fragen entpuppt sich für König gerade während der Zeit des Zweiten Weltkriegs im schottischen Exil in seiner heilpädagogischen Arbeit eine zentrale Konsequenz dieser Frage für das Ich und das Wir, die er in berührenden und authentischen Worten formuliert: «Im Zusammensein mit behinderten, zurückgebliebenen und seelenpflegebedürftigen Menschen entsteht ein neues Gleichnis wahrhafter Menschlichkeit. Und es sind nicht die Lehrer, Pfleger, Helfer und Ärzte, die dieses neue Gleichnis schaffen […]. Wirklich aber schaffen es allein die Kinder, die Ihnen und uns anvertraut sind: Ihnen als Eltern, uns als Erzieher im weitesten Sinne. Wir alle sollten immer mehr davon durchdrungen sein, dass diese Kinder unsere Lehrer sind; Lehrer in einem höheren Sinne […]. Wir sollten nicht glauben, dass sie nicht verstünden, wer und wie sie sind. Sie wissen es genau und bleiben dennoch mutig, froh und voller Hoffnung. Sollten wir uns nicht ein Beispiel an ihnen nehmen?» Radikaler kann man die Welt Werner Catels nicht vom Kopf auf die Füße stellen.

Die adoleszent gebliebene Emotionalität des hochgebildeten Wissenschaftlers enthüllt ihre grausame Rückseite in ihrem durchdringenden, narzisstischen Selbstbezug.

Karl König hat zeitlebens seine Auffassung vertreten, dass eine Menschengemeinschaft bedroht ist, unmenschlich zu werden, wenn sie den Menschen, der ‹anders› und assistenzbedürftig ist, nicht erträgt. Er warnte davor, zu glauben, dass «Missbildung, Schmerz, Not, Leid unnotwendige Dinge» für die Menschheit sind. «Denn nur, wenn wir das im Seeleninnern dauernd zu verwandeln versuchen, wenn wir da einen inneren Prozess beginnen  –  nicht die anderen, sondern jeder Einzelne für sich  –  wird etwas zustande kommen» für die wahre Conditio humana. König fordert jeden dazu auf, bewusst seelisch an sich selbst in diesem Sinne zu arbeiten, sich die Sinndimension menschlichen Seins, menschlicher Entwicklung bewusst zu machen, ähnlich wie dies auch sein jüdischer Wiener Kollege Viktor Frankl tat.

Diese Dimension aber verweigert sich dem dominierenden Selbstbezug sentimentaler Emotionalität, welche unweigerlich in einer Vergegnung mit dem anderen wie zuletzt mit dem eigenen Selbst endet  –  ein Eindruck, der sich in Bezug auf Werner Catel im Laufe der Lektüre zunehmend verstärkt. Ja, man gewinnt den Eindruck  –  und auf dieser Ebene ermöglicht diese Studie eben zugleich ein Mitgefühl mit diesem Menschen –, dass sich Werner Catel in all seiner Bildung, all seinen publizistischen wissenschaftlichen Erfolgen und all seinen Taten zunehmend selbst verloren ging. Dass er andere zu gewinnen suchte, weil er nicht wirklich zu sich selbst fand. Und tötete, was er nicht entdecken und verstehen konnte. Man tötet nie nur den anderen, ohne etwas in sich selbst zu töten.

Karl Königs heilpädagogischer Ansatz wurde immer stärker transdisziplinär geprägt (wie der Anthroposophie selbst ein transdisziplinärer Charakter eignet): Entwicklungspsychologie, Pädagogik, soziale Gemeinschaftsbildung bis hin zur weltweiten Gründung heilpädagogisch-sozialtherapeutischer Einrichtungen verband König mit einem wachen Bewusstsein für die aktuelle medizinische Forschung seiner Zeit. Seine herausragenden Leistungen in der Förderung und Integration assistenzbedürftiger Kinder begründen sich in der leitenden Frage und Forschung nach dem Du jedes Menschen, und diese Frage ist es, die auf einen Hintergrund verweist, der sich der Es-geprägten Fachlichkeit und Sachlichkeit eines monodisziplinär medizinischen Ansatzes verweigert. Die Frage nach dem Du ist es aber auch, die König in aller Deutlichkeit jedem normativ-körperlich begründeten Selektionsgedanken entgegenstellt, sei es, dass er sich durch chromosomale Abweichungen begründet wie beim Down-Syndrom, durch neurologische Defizite oder zuletzt in wahnhaften Ideen über Blut und Rasse. Im ‹Dritten Reich› verband sich höchste wissenschaftliche und wirtschaftliche Rationalität mit grausam gesteigerter Irrationalität. Die Aktion T4, die Tötung von als minderwertig angesehenen Kindern in den ‹Kinderfachabteilungen› des ‹Dritten Reiches›, steigerte sich zuletzt in der Selektion an der Rampe von Auschwitz, an der ein Arzt über die ‹Auslöschung› in der Gaskammer entschied.

Erlösung der Medizin

Peter Selgs Studie fragt nach einer ganz anderen Hochschullaufbahn der Menschlichkeit als derjenigen einer klassischen Karriere in einer dominant naturwissenschaftlich geprägten Medizin. Nach einem anderen Lehrverhältnis von Patientin oder Patient und Arzt. Nach einer Entmedikalisierung nicht normgerechter Körperlichkeit und Verhaltensweisen. Sie stellt einen Zugang zum Menschen infrage, der die Suche nach dem Du als wissenschaftlich illusionär ansieht und sich dabei über die eigenen Motive, die eigene Haltung nicht Rechenschaft ablegt. Die das menschlich verantwortliche Ich methodisch so wenig zu erkennen in der Lage ist wie das Du, dem es im anderen begegnet. Solange die Frage nach dem Es und dem Du getrennt bleibt, solange Ärztinnen und Ärzte ihren naturwissenschaftlich geschulten, der Norm verpflichteten Blick mit wachsender technischer Macht auf die ‹Schwächsten der Schwachen› richten, so lange wird die Frage der Selektion in der Medizin an Virulenz eher zunehmen als abnehmen. Das stille Verschwinden etwa der Kinder mit Down-Syndrom stellt uns heute eine menschliche Frage, die an die Stimme Karl Königs erinnern kann. Eine Stimme, die immer noch hörenswert ist.

Werner Catel ist tot. Seine Haltung, sein Denken, seine innere Dissoziation, seine publizistische Selbstinszenierung sind es nicht. Die Vergegnung zwischen Catel und König gibt den Lesenden die Frage nach ihren tieferen und fortwirkenden Ursachen auf. Sie fragt nach der Erlösung der Medizin von ihrem neuzeitlich-einseitigen, normativen Machtanspruch, nach einer Hermeneutik bis in die Leiblichkeit des anderen, die zur menschlichen Resonanz mit dem Du in seiner einzigartigen Andersheit fähig wird. Einer Erlösung, die gleichberechtigt von der Frage nach dem Es wie nach dem Du ausgeht, der Suche nach dem hermeneutischen Verstehen des anderen, der ein Gleicher ist und sein will in seinem Menschsein und sich gleichzeitig jedem Verständnis verweigert, das sich intellektuell-klassifikatorisch, technisch oder emotional seiner bemächtigen will. Sie fragt nach den bewussten Voraussetzungen für ein authentisches, dem Du verpflichtetes Mitgefühl, das sich  –  wie Karl König  –  mit aller Konsequenz sagt: «Ich muss der Macht entraten. Das ist die erste Versuchung, die heute an die ganze Menschheit herantritt.» Nach einer Medizin, die die Sorge für den anderen (Giovanni Maio) zum Grundmotiv ihres Strebens macht. Die in sich die Qualitäten von Intensive Care und Spiritual Care zu vereinen vermag.

Georg Soldner

Literaturhinweis: Peter Selg, Heilpädagogik oder ‹Kindereuthanasie›?  Verlag des

Ita-Wegman-Instituts, Stuttgart, 2021.

Erschienen in: Das Goetheanum –

Wochenschrift für Anthroposophie Nr. 48, 26. November 2021