Gewissheit, Offenheit und Zweifel im Erkennen

Anthroposophie und Skepsis Wissenschaft beginnt mit Intention, Selbstsensibilisierung und Tätigkeit.

Seit der Antike bezeichnen sich bestimmte Denker als ‹Skeptiker›. In der Entstehung des modernen Wissenschaftsbegriffs spielt die Skepsis eine zentrale Rolle. Seit einigen Jahren haben sich besondere Gruppen von sogenannten ‹Skeptikern› gebildet, die sich auf einen Kreuzzug gegen das begeben, was sie für Pseudowissenschaft halten. Anthroposophie schlagen sie hier dazu. Jedoch versteht sich Anthroposophie als eine Erweiterung der wissenschaftlichen Methode und soll deshalb sachgemäß mit einer skeptischen Haltung arbeiten. Vor diesem Hintergrund versucht Wolf-Ulrich Klünker, der Beziehung von Anthroposophie und Skepsis nachzugehen.

Ist Anthroposophie eigentlich Glaube, Wissenschaft oder Wirklichkeit? Anthroposophie kann ihrem tiefen Anliegen nach nur Wirklichkeit sein, und Wissenschaft wäre dann das Bewusstsein und das Hervorbringen der Wirklichkeit. Schon bei dieser Aussage wird deutlich, dass in der Wahrheitsdimension von Anthroposophie keine Wirklichkeit ohne menschliches Bewusstsein, das heißt ohne Wissenschaft, möglich ist  –  und dass andererseits Wissenschaft nur als vom Menschen erkannte, erlebte oder gebildete Wirklichkeit Bedeutung besitzt. Wissenschaft kann dann nicht nur Abbild oder Beschreibung von Wirklichkeit sein, nicht nur ‹Information›. Dieser folgenreiche Satz gilt insbesondere für die Anthroposophie als Geisteswissenschaft.

Wissenschaft und Glaube

Das vergangene 20. Jahrhundert war fraglos wissenschaftlich, vor allem naturwissenschaftlich geprägt  –  in seinen Erkenntnisorientierungen, aber weitgehend nicht in seinen Lebensorientierungen. Die Wissenschaft hat jedenfalls den Bereich der Erkenntnis und der Wahrheit vom Glauben übernommen. Glaube und Religion sind immer mehr in die Subjektivität des Einzelnen übergegangen, von der früher objektiven und allgemeingültigen Wahrheit in eine persönliche. Im älteren Christentum galt der Glaube als Vorläufer der Erkenntnis. Im Glauben konnte man sich einer Wahrheit zuwenden, die dem eigenen Erkenntniszugang (noch) verschlossen war. Ein so verstandener Glaube hatte einen starken Willenscharakter: das zunächst Geglaubte auch in der Erkenntnis anzustreben und das gesamte Leben danach auszurichten.

Mit der Subjektivierung und Individualisierung ist der Glaube in gewisser Hinsicht beliebig geworden. Wo er über das Subjektive und Persönliche hinausgreift, entsteht sofort die Gefahr der Ideologisierung. Skeptische Grundhaltungen des 20. und des 21. Jahrhunderts beruhen vielfach auf entsprechenden Beobachtungen und Erfahrungen. Neben der Religion sind auch philosophische und spirituelle Ansätze nicht frei von der Ideologiegefahr; selbst (geistes-)wissenschaftliche Perspektiven, die nicht empirisch objektivierbar erscheinen, können so als ideologieverdächtig gelten. Die in der letzten Zeit weltweit wieder zunehmend harte Kritik an anthroposophischen oder auch allgemein spirituellen Denkformen und Projekten geht von einer solchen skeptischen Grundhaltung aus.

Jede Erfindung, jede zukunftsfähige Entwicklung muss den Bereich vermeintlich ‹objektiver› Absicherung überwinden.

‹Skeptizismus› war und ist keine bestimmte erkenntnistheoretische oder philosophische Richtung. Der Begriff beschreibt eher die Stimmung oder Atmosphäre eines Bewusstseins, das sich als aufgeklärt versteht. Hier konnte sich die (problematische) Alternative ausbilden, dass entweder nur fundamentalistische oder gar keine metaphysischen Wahrheitsbezüge möglich seien. Man kann prinzipiell drei Positionen als skeptische Haltungen unterscheiden: erstens eine gleichsam ‹gesunde› Skepsis, die nichts naiv übernehmen will. Zweitens eine Haltung, die man im Unterschied zur Skepsis als Skeptizismus bezeichnen kann, nämlich die Möglichkeit von Wahrheit insgesamt infrage zu stellen und damit metaphysische Positionen abzulehnen; Wissenschaft wird dann prinzipiell auf empirische Verfahren reduziert. Und drittens kann Skepsis sich auch auf eine eher alltägliche Lebensstimmung beziehen: ein gewisses Grundgefühl ohne eigenes Urteil  –  «da bleibe ich skeptisch», eine innere Widerständigkeit gegenüber Wirklichkeit und Wahrheit.

Alle drei Positionen existieren auch der Anthroposophie gegenüber, manchmal sogar unerkannt innerhalb der Anthroposophie. Man kann beispielsweise Aussagen von Rudolf Steiner oder anderen geisteswissenschaftlichen ‹Lehrern› gelten und in gewisser Weise in der Schwebe lassen, ohne sie selbst prüfen zu wollen. Damit halte ich mich in gewisser Weise ‹draußen›, überlasse die Verantwortung für Wahrheit und Wirklichkeit anderen, zum Beispiel Rudolf Steiner: letztlich eine skeptische Haltung im Sinne der dritten geschilderten Position!

Wissenschaft und Leben

Nun ist Anthroposophie allerdings auch Leben. Leben entsteht überall dort, wo sich eine Sensibilität für Wirklichkeit bildet. Dem Menschen wird Leben in einer Empfindung bewusst, in der sich Erkenntnis und Leben berühren. Empfindung bildet individuell auch die Grundlage für die gegenseitige Sensibilität der Organe und für ihre Verbindung zum gesunden Lebensorganismus. Der Lebensorganismus umfasst sowohl die existenzielle Ebene des eigenen Körpers als aber auch die Lebensprozesse der Biografie und des Schicksals. Die ältere Psychologie (bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts) hat bemerkt, dass die menschliche Seele in ihrem Empfindungsleben als Bildekraft im körperlichen Organismus und im biografischen Lebensorganismus wirkt.

Mit solchen Lebensperspektiven berührt die Frage nach Wahrheit und Wirklichkeit existenzielle Bereiche. Hier geht es um Leben und Tod, um Gesundheit und Krankheit, um Sein oder Nichtsein. In diesem Bereich kann man sich eigentlich nicht ‹skeptizistisch› draußen halten, es sei denn, man könne glaubhaft versichern, dass einem die genannten Alternativen gleichgültig sind. Rettungskräfte wissen allerdings zu berichten, dass nahezu jeder in schwerer Krankheit oder angesichts des Todes leben will. Und auch in der Wissenschaft war das Rätsel des Todes am Anfang zunächst zentral; die Frage nach dem Tod steht am Anfang von Psychologie und Anthropologie. Aristoteles formuliert in seinen Büchern ‹Über die Seele›, die den Beginn wissenschaftlichen Denkens über den Menschen markieren, das existenzielle Grundthema der Psychologie (und der gesamten Wissenschaft, insofern diese immer auch Grundlage menschlichen Selbstverständnisses ist): Was wird aus der menschlichen Seele und insbesondere aus ihrem Denken, wenn der leibliche Organismus stirbt?

Aristoteles beantwortet diese Frage nicht, und so beschäftigte sie Psychologie und Anthropologie über zweitausend Jahre lang  –  bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Wissenschaft begann, seelische und geistige Aspekte des Daseins methodisch zu relativieren und an die Religion oder Weltanschauung abzutreten. Damit ging für die moderne Naturwissenschaft die spirituell-existenzielle Dimension verloren, die aus der Perspektive ‹sub specie aeternitatis›, angesichts der Ewigkeit, entsteht. Man vermied nun den wissenschaftlichen Blick auf die Todesgrenze und damit den Ernst, der auch in der Wissenschaft entsteht, wenn nach Existenzformen jenseits der Grenze gefragt wird. Dieser Verzicht wurde auch vom Alltagsdenken der Zivilisation nach und nach übernommen, sodass bald Positionen der Religion und der Philosophie mit Skepsis betrachtet wurden, nicht aber die ‹moderne› Wissenschaft selbst. Gerade die allmähliche Vorherrschaft der naturwissenschaftlichen Disziplinen ließ deren Ergebnisse als ‹realistisch› erscheinen. So wurde und wird der wissenschaftliche Realismus paradoxerweise im Prinzip glaubend vorausgesetzt; die Wissenschaft ist so zur Glaubensinstanz geworden.

Wissenschaft beginnt mit Intention, Selbstsensibilisierung und Tätigkeit.

In den letzten Jahren haben ‹alternative› Bewusstseins- und Lebensformen in der breiteren Zivilisation an Raum gewonnen. Bio- und Demeter-Landbau, entsprechende Nahrungs- und Reinigungsmittel, aber auch homöopathische, anthroposophische und andere ‹alternative› pharmazeutische Produkte und Therapieverfahren verbinden sich immer stärker mit dem öffentlichen Bewusstsein. Demgegenüber steht ein wissenschaftliches Denken, das weitgehend an naturwissenschaftlichen Idealen orientiert ist, die sich im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert herausbilden konnten. Diese wissenschaftlichen Perspektiven haben sich insbesondere im Laufe des 20. Jahrhunderts mit einem bestimmten Wahrheits- und Wirklichkeitserleben verbunden: Wirklich sind nur Tatsachen und Vorgänge, die von einem solchen Bewusstsein erfasst werden können. Andere Herangehensweisen werden als veraltet und als wissenschaftsfeindlich betrachtet und auch empfunden; man vermutet hier problematische spirituelle, religiöse oder weltanschauliche Einflüsse. So ist gerade auch in Zeiten der Pandemie festzustellen, dass sich als aufgeklärt-skeptisch verstehende Positionen vehement gegen alle Denkansätze und Herangehensweisen wenden, die sich nicht auf das (schon selbstverständlich vorausgesetzte) Wissenschaftsverständnis beziehen.

Subjektive Objektivität

Dabei ist oft in Vergessenheit geraten, dass die zugrunde gelegte Vorstellung von Wissenschaft und Wirklichkeit selbst auf einer radikalen Reduzierung des wissenschaftlichen Spektrums beruht und dadurch ein Wirklichkeitsverhältnis hervorgebracht hat, das Hegel als naiven Realismus bezeichnet hätte. In der mehr als zweitausendjährigen Wissenschaftsgeschichte bis ins 19. Jahrhundert hat ein solcher naiver Realismus immer eine gewisse Rolle gespielt, aber stets neben anderen, wissenschaftlich sehr wirksamen Strömungen. Die technisch-naturwissenschaftliche Entwicklung hat dann zu einer massiven Intensivierung und zivilisatorischen Etablierung dieses ‹Realismus› geführt  –  und die durch sie hervorgerufenen Reduzierungen gerieten zunehmend in Vergessenheit. In dieser Situation versuchte Rudolf Steiner, die Anthroposophie als eine ergänzende und umfassende Wissenschaft zu etablieren; beispielsweise sollten auch Lebens-, Seelen- und Entwicklungsprozesse wissenschaftlich zugänglich werden, nicht nur beschreibend, sondern auch in ihrer Genese. Wissenschaft sollte sich wieder ihrer wirklichkeitsbildenden Kraft bewusst und damit zukunftsfähig werden, und zwar als Grundlage und Entwicklungskraft, nicht nur als Abbild menschlichen Lebens.

Letztlich stellt sich die Frage, ob eine Welt und eine Wirklichkeit ohne den Menschen denkbar ist  –  ohne menschliches Bewusstsein und ohne menschliche Entwicklung. Entwickelt sich die Wirklichkeit durch und für den Menschen, oder gilt der Mensch nur als mehr oder weniger zufälliges Produkt eines kosmischen Werdeprozesses ohne bestimmtes Ziel? Eine weitere Grundsatzfrage betrifft das Wissenschaftsverständnis. Kann Wissenschaft nur ‹objektiv› feststellen, was eine Tatsache ist, und dann darüber ‹informieren›  –  oder soll sich Wissenschaft auch als Mittel des Hervorbringens von Wirklichkeit begreifen? Jede Erfindung, jede zukunftsfähige Entwicklung muss den Bereich vermeintlich ‹objektiver› Absicherung überwinden. Auch ein wirksamer Impfstoff muss erst ‹freischwebend› entwickelt werden, bevor seine Wirkung überprüft werden kann. Die Überprüfung kann Initiative, Erfindung und Wirksamkeit niemals ersetzen.

Wolf-Ulrich Klünker

Erschienen in: Das Goetheanum –

Wochenschrift für Anthroposophie

Nr. 20, 14. Mai 2021