Enkeltaugliche Politik!

Der Klimaschutzbeschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 erstreckt die Grundrechte auch auf zukünftige Generationen.

Vieles ist ungewöhnlich an dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz. Erstaunlich war die Reaktion der Prozessverlierer: Es überboten sich SPD und Union mit Zusagen zur raschen Nachbesserung der Klimaziele  –  als hätten sie nie anderes gewollt. Der Bundeswirtschaftsminister Peter Altmeier: «Wir haben eine Ermutigung und auch einen Warnhinweis erhalten.» Als Ermutigung bezeichnete er die Frist, um «innerhalb der nächsten Monate das Versäumte nachzuholen». Die Umweltministerin Svenja Schulze will noch im Sommer Eckpunkte für ein weiterentwickeltes Klimaschutzgesetz vorlegen.

So positiv zu einem höchstrichterlichen Urteil äußern sich gewöhnlich nur Gewinner oder Gewinnerinnen eines Prozesses. Selbstverständlich lobte die Opposition  –  mit Ausnahme der AfD  –  den Beschluss ebenso. Grünen-Chefin Annalena Baerbock sagte, die klare Botschaft sei, dass zu wenig Klimaschutz die Freiheitsrechte dieser und kommender Generationen bedrohe. «Wir und unsere Kinder haben ein Grundrecht auf Zukunft.» Nun müsse konsequent und konkret gehandelt werden, um mehr Kohlendioxid einzusparen. Und für den Fall der Beteiligung der Grünen an der nächsten Bundesregierung: «Wir werden unser Land auf die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens ausrichten und das Klimaschutzgesetz entsprechend ändern.»

Die Würde der künftigen Generation

Wie gelang es dem Bundesverfassungsgericht, dass alle so zufrieden sind? Zunächst hat Karlsruhe im ersten Leitsatz des Beschlusses bekräftigt, dass die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates auch die Verpflichtung umfasst, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Ferner wurde klargestellt, dass dieses Grundrecht auch eine Schutzverpflichtung auf künftige Generationen begründen kann. Damit wird ein neuer Maßstab der verfassungsrechtlichen Prüfung eingeführt, nämlich dass Maßnahmen des Staates zum Schutz von Leben und Gesundheit von nun an ‹enkeltauglich› sein müssen. Beides ergibt sich aus Art. 20a GG. Dieser lautet: «Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.»

So war auch für das Gericht die Begründung dafür, dass das Klimaschutzgesetz nicht verfassungsgemäß sei, dass höhere Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf die Zeit nach 2030 verschoben wurden: «Grundrechte (der Beschwerdeführenden) sind dadurch verletzt, dass die nach § 3 Abs. 1 Satz 2 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 bis zum Jahr 2030 zugelassenen Emissionsmengen die nach 2030 noch verbleibenden Emissionsmöglichkeiten erheblich reduzieren und dadurch praktisch jegliche grundrechtlich geschützte Freiheit gefährdet ist. Als intertemporale Freiheitssicherung schützen die Grundrechte die Beschwerdeführenden hier vor einer umfassenden Freiheitsgefährdung durch einseitige Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft. Der Gesetzgeber hätte Vorkehrungen zur Gewährleistung eines freiheitsschonenden Übergangs in die Klimaneutralität treffen müssen, an denen es bislang fehlt.»

Wer auch immer die Politik in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten bestimmt, hat ökologische Belange auch für die Zukunft zu berücksichtigen.

Klimaschutz wird zur Pflicht

Auf Art. 20a GG greift auch der zweite Leitsatz des Beschlusses zurück: «Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von Klimaneutralität.» Und dazu werden wichtige Marksteine gesetzt:

Je weiter der Klimawandel fortschreitet, desto mehr Gewicht bekommt Art. 20a, wenn eine Kollision mit anderen Verfassungsgütern, also insbesondere mit anderen Grundrechten vorliegt.

Das heißt: Soweit die Berufung auf unsere Freiheiten oder auf unser Eigentum die Umwelt weiter schädigt, geht die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Naturgrundlagen letztlich vor. Dieser Leitsatz des Gerichts geht weit und wird uns möglicherweise gar nicht gefallen, wenn wir in Zukunft betroffen sind. Aber angesichts der jüngsten Hochwasserkatastrophe kann kein Zweifel daran bestehen, dass er berechtigt ist.

Auch bei Ungewissheit über die Ursachen von Umweltschädigungen sind schon mögliche Gesundheitsschäden für künftige Generationen zu berücksichtigen.

Der Staat kann sich nicht darauf berufen, dass mögliche Umweltschädigungen noch nicht wissenschaftlich gesichert seien. Die Möglichkeit reicht.

Der nationalen Klimaschutzverpflichtung steht nicht entgegen, dass der globale Charakter von Klima und Erderwärmung eine Lösung der Probleme des Klimawandels durch einen Staat allein ausschließt.

Das bedeutet, dass Deutschland sich nicht auf Versäumnisse anderer Länder berufen kann.

Art. 20a GG ist eine justiziable Rechtsnorm, die den politischen Prozess zugunsten ökologischer Belange auch mit Blick auf die künftigen Generationen binden soll.

Wer die Politik der Bundesrepublik in den nächsten Jahrzehnten bestimmt, hat ökologische Belange auch für die Zukunft zu berücksichtigen. Das Gericht folgert dann, dass die im Klimaschutzgesetz vorgenommene Verteilung der Lasten auf die jetzige und auf künftige Generationen nicht mit Art. 20a GG in Einklang stehe und daher nicht verfassungsgemäß sei. Wörtlich wird das im vierten Leitsatz ausgeführt: «Der objektivrechtliche Schutzauftrag des Art. 20a GG schließt die Notwendigkeit ein, mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten.»

Pflanze und Tier bleiben rechtlos

Der Karlsruher Beschluss ist mit seinen Leitsätzen ein Meilenstein in der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik. Denn von jetzt ab werden sich Politik und Rechtsprechung darauf einstellen müssen, dass bei allen Maßnahmen und Entscheidungen auch die Grundrechte der zukünftigen Generationen zu berücksichtigen sind. Das ist sehr zu begrüßen.

Einen weiteren Schritt ging das Gericht nicht: Die Verfassungsbeschwerden von zwei Umweltverbänden, die aufgrund von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG und Art. 20a GG im Lichte von Art. 47 der Charta der Grundrechte als Anwälte der Natur geltend machten, der Gesetzgeber habe keine geeigneten Maßnahmen zur Begrenzung des Klimawandels ergriffen und hierdurch verbindliche unionsrechtliche Vorgaben zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen missachtet, wurden abgewiesen. Eine solche Beschwerdebefugnis für die Natur sieht das Grundgesetz nach Ansicht des Gerichts nicht vor, auch nicht Art. 20a GG. Das ist unbefriedigend, denn durch Schädigungen der Umwelt werden ja nicht nur Menschen beeinträchtigt, sondern auch die anderen Lebewesen, und diesen wird bisher jedes subjektive Recht  –  auch treuhänderisch ausgeübt  – abgesprochen. Da bleibt noch Raum für künftige Entscheidungen des Verfassungsgerichts.

Ingo Krampen

Erschienen in: Das Goetheanum – Wochenschrift für Anthroposophie Nr. 36, 3. September 2021

Ingo Krampen ist Rechtsanwalt und Mediator. Er arbeitete viele Jahre in der Sozietät Barkhoff & Partner. Er berät gemeinnützige Einrichtungen und publizierte zu Selbstverwaltung und Rechtsfragen. Zuletzt die Erzählung ‹Lobo›.