Dunkle Vergangenheit und helle Zukunft der USA

Die Worte «I pledge allegiance to the flag of the United States of America and to the Republic for which it stands, one nation, indivisible, with liberty and justice for all» klingen mir aus meiner Schulzeit im Pine-Rigde-Resevat der Oglala-Lakota-Nachfahren bis heute noch nach. Des Öfteren mussten wir diese Worte am Montagmorgen vor dem Unterrichtsbeginn, schläfrig und im Chor, vor uns hinmurmeln.

Seit 1892 schwören Kinder in den USA Treue auf die US-Fahne und «die Republik, für die sie steht, eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle». Die versprochene Freiheit hat seit 1492 Millionen von Menschen aus der ganzen Welt angelockt und für viele waren und sind die USA ein Ort der Zuflucht, eine Gelegenheit für neue Chancen. So haben unzählige europäische US-Amerikanerinnen und -Amerikaner wie Eleanor Roosevelt, Ernest Hemingway, Neil Armstrong, Bill Gates, Abraham Lincoln, Henry Ford, Elvis Presley, Thomas Edison und George Washington ihre Chance genutzt und die Welt stark beeinflusst. Bis zum 21. Jahrhundert gab es kaum einflussreiche Menschen afrikanischer Abstammung in den USA. Ausnahmen waren Maya Angelou, Rosa Parks, Martin Luther King Jr., Malcolm X, Louis Armstrong und Michael Jackson. Einflussreiche Indigene gibt es hierzulande kaum, dafür einige wohlbekannte: Jim Thorpe, Sitting Bull, Pocahontas und Sakachawia. Dies ist der Chancenungleichheit geschuldet, womit sich die Menschen in den USA nur schwer abfinden.

Leben in der ‹Minderwertigkeit›

Wegen einer Schweizer Mutter habe ich helle Haut und man sieht mir kaum an, dass ich Lakota bin. Deshalb bin ich sehr privilegiert aufgewachsen. Trotzdem musste ich im Oktober 2009 zum ersten Mal meinen damaligen Freund in ein Geschäft im konservativen Rapid City begleiten, wo man ihn aufgrund seiner Hautfarbe nicht bedienen wollte. Im Winter 2008 wurde meine blonde, blauäugige Basler Mutter von einer Mitbürgerin davor gewarnt, ins Reservat zu fahren, und es wurde ihr geraten, eine Polizeieskorte zu verlangen. Dass meine Mutter seit 20 Jahren dort lebte, noch nie ausgeraubt oder angegriffen worden war oder Drogenkonsum gesehen hatte, hatte keinen Stellenwert in der darauffolgenden Diskussion. Im Herbst 2011 erlebte ich, wie meinen Freunden und mir das Besteck im Restaurant durch Plastikbesteck ersetzt wurde. Wir waren die einzige Gruppe mit vielen Dunkelhäutigen und die einzigen, denen kein Metallbesteck anvertraut wurde. Unzählige Male habe ich Geschäfte, Restaurants, Hotels, öffentliche Verkehrsmittel verlassen müssen, um Mitglieder meiner Familie und meines Freundeskreises irgendwie zu trösten. In den USA gibt es eine Rangordnung unter den verschiedenen Ethnien und daran glauben nicht nur die Menschen europäischer Abstammung. Die katholischen Boarding Schools, in welche indigene Kinder gezwungen wurden, haben etlichen Generationen den Glauben eingebläut, zweitrangig zu sein. «Kill the Indian, save the man» war ihr Leitspruch, der besagt, dass der Mensch nur gerettet werden kann, wenn der ‹Indianer› in ihm stirbt. Durch die grausamen Maßnahmen der ‹Umkultivierung› wurden nicht nur Selbstwertgefühle geschwächt, sondern auch wichtiges kulturelles Gut und Wissen. Dazu gehören jahrtausendalte Geschichten, Wissen der Pflanzenheilkunde, Werte, Sozialstrukturen, Dynamiken und vieles mehr. Im 20. Jahrhundert kämpften die wenigen indigenen Stämme, die überlebt hatten, um die bloße Existenz. Erst seit ungefähr zehn Jahren kann man sehen, welche Bestandteile der Kultur den Genozid und den Ethnozid überlebt haben. Ganz vorne, mit der blühenden Kraft eines Kleinkindes, steht die Naturverbundenheit.

Demokratisierung und Aufbruch durch das Internet

Durch die enorme Widerstandsfähigkeit dieser Menschen konnten alte Kulturen weitergetragen werden und neue, starke Impulse haben sich dadurch entwickelt. Es haben sich indigene Modestile entwickelt, Sprachen werden fleißig wiedererlernt, Musik neu erfunden, die Ernährung angepasst und Umgangsformen entgiftet. Das alles kann man in vielen indigenen Netzwerken auf der ganzen Welt sehen und vor allem auch im Internet. Das World Wide Web hat es den Machtlosen erlaubt, sich gegenseitig zu finden, Bündnisse zu bilden und sich gegenseitig zu bestärken. Für Menschen, die in einer Gesellschaft leben, in der sie die Mehrheit sind und in der das System auf sie zugeschneidert ist, ist dieses Bedürfnis schwer nachvollziehbar. Das Gefühl, eine bedrohte, machtlose Minderheit zu sein, der anzugehören man nicht entscheiden konnte, ist ein Teil alltäglicher Realität für viele Menschen. Als sich innert weniger Jahre neue Plattformen wie Facebook, Twitter, Instagram, Snapchat und TikTok auf der Welt einbürgerten, gab es endlich einen Ort, an dem sich große Menschenmengen begegnen und austauschen konnten.

Internet ist kontrovers zu diskutieren, denn es hat auch negative Konsequenzen. In dieser neu geformten Internetkultur braucht es Zeit  –  wie das bei Neuheiten so ist –, um gesunde Umgangsformen zu erlernen und zu verbreiten. Tatsache ist jedoch, dass das Internet denjenigen Themen Aufmerksamkeitsräume gibt, die bisher ignoriert werden konnten. Dass jede und jeder mit einem Handy und Internetanschluss eine gleich starke Stimme haben kann, erlaubt einen ungeheuren Austausch. So etwa hat die Welt das Video über die Tötung von George Floyd sehen können und dabei ein unterdrücktes Thema wachgerüttelt. So gibt es eine ganze Reihe jüngerer Beispiele für die Wirksamkeit des Internets: Im Jahr 2016 wurde die ganze Welt Zeugin der Auseinandersetzungen in North Dakota, wo indigene Menschen zusammen mit Umweltaktivistinnen und -aktivisten gegen das Bauen der Dakota-Access-Pipeline und damit gegen Ölkonzerne kämpften. Greta Thunbergs Streik hatte einen globalen Effekt und löste Massenproteste aus. Sie rief Politiker und Politikerinnen dazu auf, Ölkonzerne zur Verantwortung zu ziehen und verschärfte Umweltschutzgesetze zu erlassen.

Waldorfschule als Hort ursprünglicher und zukünftiger Werte

Heute sind wir aufgerufen, uns um die Umwelt zu kümmern und umweltbewusst zu leben. Vor wenigen Hundert Jahren haben die Kolonialmächte die ‹Wilden›, die ‹Unzivilisierten› wegen ihrer einfachen Lebensumstände verachtet und vernichtet. Heute verbreitet sich das Wissen über nachhaltige Lebensweisen schnell. Viele Menschen beteiligen sich, indem sie selbst Lebensmittel anpflanzen, Recycling betreiben, lokal einkaufen und weniger konsumieren. Doch was ist mit den Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern, die beraubt wurden? Auf dem Pine-Ridge-Reservat haben meine Eltern 1993 die Lakota Waldorf School gegründet. Heute ist sie eine etablierte Schule, die die Sprache und die Kultur der Lakota in die Waldorfpädagogik einbettet. Die Lakota-Kinder erfahren in der Schule all das, dessen ihre Großeltern beraubt wurden: traditionelle Musik, Tänze, Geschichten, Lehren über die Natur, die Sterne, die Fauna, die Medizin, ihre Sprache und vieles mehr. Die Kinder wissen dort, dass sie wichtig sind und dass es gut ist, Lakota zu sein. Den Lehrplan habe ich der lokalen Kultur angepasst und in Zusammenarbeit mit der Akademie für anthroposophische Pädagogik ein Lehrendenseminar für Lakota aufgebaut, die Academy for Indigenous Waldorf Pedagogy. Da die Eltern wegen der großen Armut keine Beiträge bezahlen können, wird die Schule durch Spenden und Stipendien finanziert. Nach jahrzehntelanger Aufbauarbeit meiner Mutter, Isabel Stadnick, und einem Kreis von Lakota erhielt die Lakota Waldorf School im Herbst 2020 zum ersten Mal Bundesgelder aus Washington D. C. Diese Gelder dienen vor allem der Wiederbelebung der Sprache und bedeuten keine Einschränkungen der Waldorfpädagogik.

Nach einer tief traumatischen Vergangenheit von Ausnutzung und Unterdrückung blicken viele Menschen in den USA nun in eine lichtere, vielversprechende Zukunft, in der für Gerechtigkeit mehr gekämpft wird: Gerechtigkeit für die beschädigte Natur, Gerechtigkeit für die Nachkommen der Versklavten und Gerechtigkeit für indigene Menschen wie uns.

Celestine Stadnick

Erschienen in: Wochenschrift für Anthroposophie Nr. 3-4, 15. Januar 2021

Celestine Stadnick ist 1990 im Pine-Rigde-Reservat in den USA als Tochter eines Lakotas und einer Schweizerin geboren. Ihre Schulzeit an der Lakota Waldorf School, an der Rudolf-Steiner-Schule Luzern und an der Atelierschule Zürich hat sie dazu inspiriert, Waldorflehrerin zu werden. Nach einigen Jahren als Klassenlehrerin gründete sie 2019 mit Unterstützung der Akademie für anthroposophische Pädagogik in Süddakota ein Lehrendenseminar für indigene Waldorfpädagogik. Momentan absolviert sie an der University of New Brunswick den Masterstudiengang im Bereich Schulführung und Administration.