Die Flügel der Sprache

«Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.» Den Satz hat vermutlich der amerikanische Politiker Hiram Johnson (1866–1945) als Erster geprägt. Dann ist er tausendmal zitiert worden. Er bedeutet auch, dass der Krieg vor dem Krieg beginnt, wenn Narrative alter Großmachtnostalgien bemüht werden.

Der Satz bedeutet auch, dass die Sprache angesichts der Gewalt verstummt. Ja, darin seien sich Täter und Opfer ähnlich, dass die Gewalt beiden die Sprache verschlage, schreibt der Kriminalist und Psychologe John Douglas in seinen Buch ‹Die Seele des Mörders›. Douglas wurde im Todesjahr von Hiram Johnson geboren. Die ganze Welt scheint an diesem 22. Februar verstummt zu sein. Um dem Verstummen zu entfliehen, tun die politisch Verantwortlichen, wofür sie gewählt wurden: Sie geben Statements ab, geben Antworten und wissen, dass es bei Gewalt keine Antwort gibt, weil Gewalt keine Frage kennt. Die Fassungslosigkeit, Sprachlosigkeit schimmert durch. Das ist die Sprache hinter dem Verstummen, die Antwort auf die Gewalt. Und auch die Seite des Angreifers ist stumm. Ja, da gibt es eine Rede, wirr und bizarr, Tünche für das Verstummen, wenn die Gewalt Oberhand hat. Rätselhaft, dass gerade der naturgemäß Stummste von allen, Sergej Naryschkin, der Chef der Auslandsspionage, bei der öffentlichen Anerkennung der Separatistengebiete stammelt und vom Staatschef vor den Kameras vorgeführt wird. Stammeln, ein Rest von Sprache.

Steven Pinker schreibt in seinem Buch ‹Gewalt  –  eine neue Geschichte der Menschheit› von fünf Dämonen, die zur Gewalt führen: Raub, Dominanz, Rache, Sadismus und Ideologie, und stellt ihnen fünf Engel gegenüber, Engel, deren Flügel aus Sprache bestehen: Empathie, Selbstkontrolle, also das Selbstgespräch, Sport und Bewegung, Moral und Klugheit. Wo immer es vom Verstummen und allgemeinen Formeln ins Stammeln und von dort ins Reden gehe, wo so die Sprache auf die Beine komme, könnten die Engel es mit den Dämonen aufnehmen.

Wolfgang Held

Erschienen in: Das Goetheanum –

Wochenschrift für Anthroposophie

Nr. 9, 4. März 2022