Der Nutri Score für gesunde Ernährung?

In einem Esslöffel Ketchup verbirgt sich ein Würfelzucker. Fett und Zucker verstärken den Geschmack, also kein Wunder, dass die Lebensmittelindustrie zu viel der Dick- und Krankmacher in ihre Produkte steckt und in ihnen versteckt. Was bringt die Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln, die nun in Deutschland  –  zumindest freiwillig  –  eingeführt wird?

Der Nutri Score ist eine Nährwertampel, die in fünf Stufen mit Buchstaben und Farben eine Lebensmittelbewertung anzeigt. Ein Produkt mit dunkelgrünem A wird ernährungsphysiologisch günstig, eines mit einem roten E ungünstig bewertet.

Zuerst hat Frankreich (2017) den Nutri Score eingeführt, um Verbrauchern und Verbraucherinnen eine leicht erkennbare Auszeichnung anzubieten, damit sie gesunde Lebensmittel identifizieren können. Der Hintergrund ist, dass ernährungsbedingte Krankheiten wie Adipositas (Fettleibigkeit und in der Folge Diabetes und koronare Herz-Kreislauf-Erkrankungen) verbreitet sind. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung in Mitteleuropa ist stark übergewichtig (BMI über 30). Die Ampel soll Abhilfe schaffen und eine schnelle Hilfe beim Einkauf von Produkten mit guter Nährwertzusammensetzung bieten. In der Schweiz sind seit März 2019 einige Produkte mit der Lebensmittelampel auf der Vorderseite der Verpackung gekennzeichnet. In Deutschland soll die Kennzeichnung zum November dieses Jahres eingeführt werden. Für Hersteller ist die Verwendung des Nutri Score freiwillig, sie müssen sich lediglich anmelden und dann verpflichten, alle Produkte der entsprechenden Marke auszuzeichnen. So wird vermieden, dass jeweils nur die mit dunkelgrünem A gekennzeichneten Produkte die Ampel tragen. Eine generelle Verpflichtung, den Nutri Score anzuwenden, gibt es mangels einer EU-Vorschrift nicht. Produkthersteller, die sich ein rotes E beispielsweise für ihre Fertiggerichte berechnet haben, werden kaum teilnehmen. Allerdings wird erwartet, dass der Lebensmitteleinzelhandel für die Produkte seiner Eigenmarken die Ampel anwendet.

Wo er nötig wäre, fehlt er weiterhin

Die Ampel soll die Vergleichbarkeit von Produkten innerhalb einer Kategorie ermöglichen. So kann man Fertigpizza mit Fertigpizza vergleichen, aber nicht Linseneintopf mit Orangensaft. Je grüner die Ampel, desto höher die Nährwertqualität. Wasser bekommt ein dunkelgrünes A und ist ein Sonderfall, aber in der Kategorie Getränke die beste Alternative. Für die Berechnung des Scores werden Ballaststoffe, Proteine, Obst, Gemüse und Nüsse positiv verrechnet, Salz, Zucker, Energiegehalt (Kalorien) und gesättigte Fettsäuren hingegen negativ. Jeder Lebensmittelhersteller, der Produkte auszeichnen will, ermittelt den entsprechenden Score mittels eines Algorithmus selbst. Das Ergebnis wird von keiner Stelle überprüft. Verbraucherinnen und Verbraucher müssen also vertrauen. Erreicht zum Beispiel ein Produkt ein grünes A, weil es wertvolle Nüsse enthält, kann die Rezeptur so lange variiert werden, wie sie gerade noch ein grünes A bekommt, aber der Anteil teurer Nüsse auf das Minimum reduziert wird.

Die Behörden machen glauben, dass der Nutri Score ein Anreiz für Lebensmittelhersteller ist, gesundheitlich ausgewogene Produkte zu entwickeln, denn wer will schon ein rotes E tragen. Coca Cola zeigt, dass dieser Anreiz nicht funktioniert, denn die Limonade würde ein rotes E erhalten, soll aber in der Rezeptur nicht verändert werden, weil sie gerade so, wie sie seit Jahrzehnten und an allen Orten der Erde geschätzt wird, bleiben soll. Also wird auf die Ampel verzichtet. Obwohl der Soft-Drink-Verbrauch bei Kindern maßgeblich zu deren Übergewicht beiträgt. Wäre es hier nicht angebracht, den gesundheitlichen Wert erkennbar zu machen?

Wir essen auch die lebendigen Kräfte, die den Apfel wachsen und reifen lassen, wir essen seine Biografie. Ernährung wird im Konzept des Nutri Scores auf die Nahrungsaufnahme reduziert und Aspekte wie Genuss, Zubereitung und Tischgemeinschaft werden nicht berücksichtigt.

Tatsächlich leiden immer mehr Menschen an ernährungsbedingten Krankheiten, eine Lösung ist der Nutri Score aber nicht. Wenn einem alles, worum man sich bemühen muss, abgenommen wird, weil es schon entschieden und aufbereitet ist, wird man nicht angeregt, sondern träge. In der Pädagogik ist das klare Konzept, dass das Kind seine Erfahrungen selbst macht und sich dadurch entwickelt. Widerstand macht stark; wenn ich mich um eine Entscheidung bemühen muss, mache ich eine Erfahrung. Erfolgreiche Projekte in sozialen Zusammenhängen oder in der Entwicklungshilfe zeichnen sich dadurch aus, dass die Menschen befähigt und nicht bevormundet werden. Vielerorts wird derzeit für Eigenverantwortung und Entscheidungsbefugnis demonstriert. Genau das wird aber durch die Lebensmittelampel nicht unterstützt. Die Verantwortung für die eigene gesunde Ernährung wird abgegeben und man wird immer weniger entscheidungsfähig. Die Beziehung zum Lebensmittel, die sowieso schon arm geworden ist, wird weiter entfremdet, weil sehr stark vereinfacht ein Gut oder Schlecht in Grün oder Rot auf der Packungsvorderseite aufgedruckt ist.

Was gut ist, zeigt die Ampel nicht

Verbraucher sollen so angeregt werden, eine gesündere Auswahl zu treffen. Es schlagen aber Lebensmittelzusatzstoffe (Süßungs- bzw. Konservierungsmittel, Farbstoffe), Aromen und Geschmacksverstärker nicht negativ zu Buche, auch Vitamine, Mineralstoffe und sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, die ja nun als gesundheitsfördernd gelten, werden nicht auf der positiven Seite angerechnet. Olivenöl, für eine gesunde Ernährung wichtig, erhält ein orangefarbenes D und wäre plötzlich nicht mehr so günstig zu bewerten.

Die ökologische Erzeugung und Verarbeitung spielt ebenso wenig eine Rolle wie regionale Herkunft. Dabei wissen wir, dass gesunde Lebensmittel nur auf gesundem Boden wachsen können. Außerdem gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass ökologische Lebensmittel gesünder sind. Obst und Gemüse, Basis einer gesunden Ernährung, bekommen keinen Nutri Score. Es werden nicht gesunde Lebensmittel ausgezeichnet, sondern es wird eine Nährstoffzusammensetzung als gut oder schlecht für die Gesundheit bewertet. Wir essen neben den Inhaltsstoffen auch die lebendigen Kräfte, die den Apfel wachsen und reifen lassen, wir essen seine Biografie und freuen uns am knackigen Biss.

Ernährung wird im Konzept des Nutri Score auf die Nahrungsaufnahme reduziert und Aspekte wie Genuss, Zubereitung und Tischgemeinschaft werden nicht berücksichtigt. Der Umgang mit frischen Lebensmitteln und das Kochen stellen in diesem System keinen Wert dar. Im Gegenteil, die Ampel eignet sich am besten für Fertiggerichte und für verarbeitete Produkte. Doch gerade die frisch gekochte Mahlzeit in Gemeinschaft verzehrt, ist ein wichtiger Faktor für gesunde Ernährung. Das Problem der Fehlernährung wird nicht bei der Ursache angegangen. Gesund hält uns ein selbstbestimmtes, abwechslungsreiches Leben. Seine Komplexität und Vielfalt bietet Anregung und Erfahrungsfelder. Jede Vereinfachung lässt uns abstumpfen. Ein Ansatz für eine gesunde Ernährung liegt darin, zu befähigen, die bekömmlichen Lebensmittel zu erkennen und die Diät selbst zu bestimmen. Methoden wie ‹achtsames Essen› oder ‹intuitives Essen› (Mindful Eating) sind dafür geeignet. Sie basieren darauf, dass durch bewusste Wahrnehmung (Aussehen, Geruch, Geschmack, Bekömmlichkeit) eine Beziehung zum Selbst und zum Lebensmittel wächst. In der Frage der Beziehungen liegt Potenzial zur Lösung des Problems der Entfremdung. Kinder wissen nicht mehr, wie eine Möhre aussieht und dass eine Henne, die Eier legt, auch einen Bruder hat. Dafür braucht es Ernährungsbildung, und schon Kinder sollten kochen lernen, sie sollten die natürlichen Lebensmittel mit ihren Farben und Aromen kennenlernen. Das wäre ein nachhaltiger Beitrag zur eigenständigen Gestaltung des Lebens ohne Bevormundung und schon gar nicht von einer Industrie, die nicht der Gesundheit von Mensch und Erde dient.

Jasmin Peschke

Erschienen in: Das Goetheanum – Wochenschrift für Anthroposophie Nr. 45, 6. November 2020

Jasmin Peschke ist promovierte Diplom-Oecotrophologin. Sie war im Demeter-Verband Deutschland tätig und in der Weleda AG (Schweiz und Deutschland) sowie bei bio.inspecta (Schweiz). Seit 2016 forscht und lehrt sie an der Sektion für Landwirtschaft zu Ernährungsfragen.

Buchhinweis:

Peschke, Jasmin: Vom Acker auf den Teller. Was Lebensmittel wirklich gesund macht, 2021, 256 Seiten, gebunden, AT Verlag, ISBN 978-3-03902-111-6, EUR 25,00

Können Lebensmittel gesund sein, wenn sie zwar alle Nährstoffe enthalten, aber die Produzenten immer mehr Düngemittel, Pestizide und Hilfsstoffe für deren Erzeugung einsetzen müssen? Ernährung ist mehr als blosse Nährstoffaufnahme. Aufbau- und Reifekräfte sind notwendig für die Gesundheit der Menschen und des Planeten. Authentische Lebensmittel, die auf dem Acker entstehen, sind die Voraussetzung für Lebensqualität und eine nachhaltige Zukunft. Denn nur auf gesundem Boden können Lebensmittel wachsen, die zu Gesundheit und Resilienz der Menschen beitragen. Die promovierte Oecotrophologin befasst sich in diesem Buch mit Saatgut, Böden, Nutztierhaltung, Methoden der Qualitätsuntersuchung, Ernährung für die Zukunft, einer Kochschule für Kinder und einem integrierten Gesundheitskonzept mit Blick auf die Darmmikrobiota. Interessierte finden hier gut verständliche, fundierte Informationen über Resilienz und Ernährung und erklärt, warum Gesundheit nicht ohne eine umfassende Sicht auf das gesamte Ernährungssystem entstehen kann.

Abbbildung AT Verlag