Der Mensch als  Organ der Erkenntnis

Der erste Schritt zu dieser Organbildung ist die Urteilsenthaltung …

Die Phänomenologie ist keine Technik, die, einmal erlernt, einförmig mal auf dieses, mal auf jenes Gebiet angewendet werden könnte. Ihre Methode wird vielmehr im Laufe der Forschung an und mit den Phänomenen  –  und mit neuen Phänomenen auf neue Weise  –  entwickelt. Die entsprechenden Auffassungs- und Erkenntnisorgane für die Phänomene werden erst an den Phänomenen gebildet. Goethe bekennt in einem Brief an Schiller, dass er «kein Organ zur Behandlung der Sache mitbrachte», sondern sich dieses «immer in und zu der Erfahrung bilden musste». Wenn erst an und mit den Phänomenen ein neues ‹Organ› der Auffassung entsteht, kann die Methode schließlich den ganzen Menschen verwandeln. Der Mensch selbst wird zu einem neuen, gleichsam umfassenden ‹Organ› der Erkenntnis.

Eine freie Wissenschaft

Die Bildung der Erkenntnisorgane betrifft in der Phänomenologie nicht nur den wissenschaftlich-theoretischen Verstand. Sie ist von existenzieller Bedeutung für den ganzen Menschen. Der erste Schritt zu dieser Organbildung ist die Urteilsenthaltung oder, in den Worten Edmund Husserls, des Begründers der philosophischen Phänomenologie, die phänomenologische Epoché. Durch sie geht der Forschende über von einer natürlichen zu einer phänomenologischen Einstellung  –  ein Schritt, der für Husserl einer ‹religiösen Umkehrung› gleichkommt. Mit dem Eintritt in die phänomenologische Einstellung wird der bisherige natürliche Lebensvollzug radikal angehalten. Der Mensch wendet sich vollständig um und richtet sich neu aus: Forschend ist er nun nicht mehr in naiver Weise auf die Gegenstände seines Erlebens oder Erkennens gerichtet, sondern kehrt sich den Tätigkeiten seines eigenen Bewusstseinslebens zu. Erst in dieser Selbstreflexion kann ein neues Organ für die Auffassung des Wesens der Dinge erwachsen. Ein solches Umkehren ist dem Strom des natürlichen Lebens entgegengesetzt, es muss daher bewusst und willentlich herbeigeführt werden. Phänomenologisch voraussetzungslos anzufangen, stellt somit einen Akt der Freiheit dar.

Iris Hennigfeld

Iris Hennigfeld arbeitet über ‹Goethes Naturwissenschaft als Phänomenologie› an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Sie ist auch Mitherausgeberin des englischsprachigen ‹Goethe Lexicon of Philosophical Concepts› der University of Pittsburgh.

Erschienen in: Das Goetheanum –

Wochenschrift für Anthroposophie

Nr. 27-28, 8. Juli 2022