Ankommen, Mitarbeiten, Mitgestalten: die drei Phasen des Freiwilligendienstes

Hannah Dilling reiste im Herbst 2019 für ihren Freiwilligendienst nach Indien, um dort in der Uday Waldorf Inspired School in Jaipur gemeinsam mit zwei weiteren Freiwilligen mitzuarbeiten. Aus den geplanten zwölf wurden aufgrund der Corona-Pandemie lediglich sieben Monate. In ihrem Abschlussbericht beschreibt sie ihre Erfahrungen aus dieser Zeit und wie sie sich trotz der verkürzten Aufenthaltsdauer weiterentwickeln und einbringen konnte.

Sieben Monate in Indien – die Zeit ging rasend schnell vorbei. Grund dafür war sicherlich, dass wir alle mit einem ganzen Jahr im Freiwilligendienst gerechnet hatten, zum anderen habe ich mich nach einiger Zeit einfach so an den Alltag mit den Kindern gewöhnt, dass die Wochen wie im Flug vergangen sind. Rückblickend kann ich die Zeit in Jaipur in drei Phasen einteilen. Die erste war das ‚Ankommen‘. Es hat etwa zwei Monate gedauert, bis wir drei Freiwilligen das Gefühl hatten, nicht mehr von all dem Neuen überfordert zu sein und nicht mehr jeden Tag vor Anstrengung einen Mittagsschlaf machen zu müssen.

Die zweite Phase würde ich ‚Mitarbeiten‘ nennen. In der Zeit bis Ende Dezember haben wir viel beobachtet und uns im Rahmen der bestehenden Abläufe – größtenteils ohne nachzufragen – eingebracht. Im Laufe dieser drei Monate sind uns jedoch immer wieder Dinge aufgefallen, die nicht ganz reibungslos klappten oder bei denen wir Ideen zur Verbesserung oder Anpassung hatten. Wir fanden es aber wichtig, erst die bestehenden Strukturen und Arbeitsweisen zu verstehen, bevor wir sozusagen als Neuankömmlinge und Gäste mit „neunmalklugen“ Ideen herausplatzen. Das haben wir uns für die dritte Phase aufgehoben!

Das ‚Mitgestalten‘ hat natürlich in kleinerem Rahmen, durch Anbringen von Ideen oder unsere Art der Umsetzung verschiedener Aufgaben bereits ganz natürlich stattgefunden, mir ist es aber erst im Januar besonders aufgefallen. Eines der wöchentlichen Meetings mit allen Lehrerinnen und Lehrern haben wir dann genutzt, um die Eindrücke unserer ersten Zeit zu teilen und Dinge, die uns am Herzen lagen, loszuwerden. Wir machten uns vor der Besprechung ein bisschen Sorgen, wie die Lehrerschaft alles auffassen würde, weil wir insgesamt eine recht lange Liste mit teilweise etwas heiklen Punkten vorbereitet hatten. Wie sich dann herausstellte, waren diese Bedenken völlig unbegründet. Bei dem Gespräch wurde deutlich, dass wir drei längst akzeptierte und respektierte Mitglieder der Schule geworden waren. Alle unsere Vorschläge wurden ernst genommen, Probleme wurden erkannt und gemeinsam wurde an Lösungsmöglichkeiten gearbeitet. Beispielsweise haben wir den Plan für das Aufteilen der älteren – zu dem Zeitpunkt etwa 28 Kinder starken – Gruppe umgesetzt. Auch die Idee des eigenen Gruppenraums für jede Kindergartengruppe, damit weniger Raumwechsel an einem Tag stattfinden müssen, hat Anklang gefunden. Unser Konzept, einen Wochen- und Arbeitsplan für Lehrer und Klassenhelfer zu entwickeln, durch den man besser erkennen kann, wer in welcher Woche Hilfe gebrauchen oder anbieten kann, wurde eingeführt.

In dieser letzten Phase konnten wir für uns eintreten und haben dadurch feststellen können, dass wir bereits in den ersten Monaten des Freiwilligendienstes an unseren Aufgaben gewachsen waren.

Der größte und wichtigste Gewinn, den ich aus diesem Jahr mitnehme, ist die Erkenntnis und die Fähigkeit, auf meine eigenen Bedürfnisse hören zu können und zu müssen. Denn wer kann besser wissen als ich selbst, was ich brauche, damit es mir gut geht? Ein weiterer Punkt ist die Liebe zu Kleinkindern und wie sie durch ihr Staunen auch meine Welt verzaubern können. Vor meinem Freiwilligendienst dachte ich immer, dass ich mit älteren Kindern besser auskommen könnte, jedoch habe ich festgestellt, dass gerade die Jüngsten mich immer wieder überraschen.

Und zu guter Letzt ist mir in den sieben Monaten aufgefallen, dass es einen gewaltigen Unterschied macht, ob man ein Land als Tourist bereist oder es für einen längeren Zeitraum besucht und es in dieser Zeit als Zuhause betrachtet. Als Tourist hat man ja nur begrenzt Zeit, alles zu erleben. Es ist ein kurzes Eintauchen in eine bis dahin fremde Welt, in der man nicht lange genug lebt, um neben den Unterschieden und Neuartigkeiten auch die Gemeinsamkeiten zu erkennen. Ein Urlaub ist ein bisschen wie ein Kinofilm, bei dem man über das Exotische staunt und dann wie gewohnt weitermacht. Betrachtet man das Land jedoch als neues Zuhause, so sucht man instinktiv nach vertrauten Punkten und wird in jedem Fall Gemeinsamkeiten erkennen und dadurch erleben können, dass auch hier Menschen leben, die mir gar nicht so fremd sind, wie sie vielleicht auf den ersten Blick erscheinen. Bei den weiteren Reisen, die ich in meinem Leben machen werde, möchte ich versuchen, zwischen diesen beiden Perspektiven zu wechseln und mir die unterschiedliche Wahrnehmung bewusst zu machen.

Insgesamt war der Freiwilligendienst, obwohl er verkürzt wurde, eine unglaublich bunte, erlebnisreiche Zeit mit Höhen und Tiefen, viel Selbstreflexion und -erkenntnis, die mich auf verschiedenen Ebenen hat wachsen lassen. Besonders meine Selbstständigkeit ist gewachsen, und ich habe den Eindruck, dass es mir leichter fällt, offen und wertfrei auf Menschen und die Welt zuzugehen.

Nicht zuletzt habe ich in dieser Zeit viele unglaublich tolle Menschen kennengelernt, die mich auf ihre Art geprägt haben und zu denen ich wahrscheinlich noch lange Kontakt haben werde.

Ich bin froh, die Möglichkeit zu dieser Erfahrung gehabt zu haben und würde es jedem ans Herz legen, auch einen Freiwilligendienst im Ausland zu machen!

Hannah Dilling

Erschienen in: Waldorf Weltweit, Herbst/Winter, 2020/2021